Der Kuss Im Kristall
einer der endlosen Empfänge, Soireen, Musikabende und dergleichen gewesen waren, standen sie gewöhnlich erst gegen Mittag auf. Vielleicht wollte Grace mit ihr die Pläne für den Neujahrstag besprechen.
Es irritierte Alethea ein wenig, dass Lord Barrington sich gemeinsam mit Grace im Frühstückszimmer befand. Seine Wangen waren noch von der Kälte gerötet, Hut und Überrock hatte er über einen Stuhl geworfen. Grace blickte Alethea erleichtert an und ging zur Anrichte, um ihr eine Tasse Tee einzuschenken. Statt zu knicksen, nickte Alethea Lord Barrington nur kurz zu und setzte sich dann an den Tisch, wobei ihr auffiel, dass Grace aussah, als hätte sie sich in aller Eile angezogen. Das glatte dunkle Haar war nicht wie gewöhnlich zu einem straffen Knoten frisiert, sondern wurde nur im Nacken mit einem Band lose zusammengehalten. Alethea schloss daraus, dass Lord Barrington Grace geweckt hatte, und jetzt wollten sie beide mit ihr sprechen. Das konnte nur eins bedeuten.
„Danke, dass du gekommen bist, meine Liebe“, sagte Grace und stellte die Tasse Tee vor Alethea auf den Tisch.
„Das ist doch selbstverständlich, Tante Grace.“ Lächelnd wandte sie sich an den Gast. „Lord Ronald, wie schön, Sie so früh am Tage zu sehen. Habe ich eine Verabredung vergessen?“
„Nein, Miss Lovejoy“, erwiderte er. „Ich – äh – ich fragte mich, ob Sie mir wohl freundlicherweise ein paar Fragen beantworten würden.“
„Wenn ich es kann“, erwiderte sie, rührte einen Löffel voll Zucker und einen Tropfen Milch in ihren Tee.
„Grace – das heißt, Mrs. Forbush und ich haben bemerkt, dass Lord Glenross ein – ein Interesse an Ihnen hat.“
„Oh, ich glaube, das haben Sie missverstanden“, meinte sie und fühlte, wie sie errötete. Sie warf einen Blick zu Grace und registrierte, dass sich die Grübchen in ihren Wangen vertieft hatten – ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie sich ärgerte. Also war Aletheas Verbindung zu McHugh nicht Gegenstand der Unterredung gewesen. Alethea wandte sich wieder an Lord Barrington. „McHugh betrauert noch immer seine Gemahlin. Wenn er sich mir gegenüber freundlich gezeigt hat, dann wegen seiner Freundschaft zu Martin Seymour. Und sein Bruder scheint seine Aufmerksamkeit jetzt auf meine Schwester zu richten. Ich vermute, wir könnten verschwägert werden.“
„Hm“, meinte Lord Barrington. „Dennoch, er scheint Sie häufiger in ein Gespräch zu verwickeln.“
Alethea zupfte an ihrer Serviette. Ihr war noch nie der Gedanke gekommen, jemand könnte beobachten, womit sie ihre Zeit verbrachte. Oder war es McHugh, der beobachtet wurde? „Ja“, räumte sie ein. „Wir unterhalten uns gern.“
„Worüber?“
Alethea hatte keine Ahnung, was sie ihm entgegnen sollte. Worauf wollte Lord Barrington hinaus? „Über vieles, Lord Barrington. Könnten Sie bitte etwas konkreter werden?“
Lord Ronald fühlte sich offensichtlich ein wenig unbehaglich. „Das ist eine delikate Angelegenheit, meine Liebe. Haben Sie je mit ihm über seine Verbindung zum Militär gesprochen?“
„Militär? Ah ja. Bis vor Kurzem war er bei Militär, nicht wahr?“
„Genau genommen wurde Lord Glenross nach dem Bombardement von Algier 1816 entlassen. Seine Rückkehr dorthin letztes Frühjahr war nicht offiziell und entgegen allem Rat. Er handelte ohne Befugnis.“
„Um seine Frau und seinen Sohn zu finden“, vollendete Alethea den Satz für ihn. „Ja, ich glaube, das hörte ich irgendwo. Und ich hörte auch, dass sich das Ministerium seine Rückkehr aus Algier zunutze machte. Befand er sich nicht ganze zwei Wochen lang in Gewahrsam der Regierung, unmittelbar nach seiner Flucht?“
„Nun, das kann man vermutlich so sagen. Glenross kooperierte, und er brauchte die medizinische Versorgung. Die verdammten Berber. Und jemand in Glenross’ Position ist niemals ganz fertig mit dem Außenministerium, meine Liebe. Man fühlt sich dem Land gegenüber für immer verpflichtet.“
„Das habe ich an Lord Glenross bewundert. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Nein. Er hat nie über seine Erlebnisse gesprochen, außer dass er erwähnte, erst kürzlich aus Algier zurückgekehrt zu sein.“
„Ja, der arme Mann“, murmelte Lord Barrington. „Es überrascht mich, dass er nicht den Verstand verloren hat. Falls sich natürlich bestätigt, was wir vermuten, so kann er tatsächlich den Verstand verloren haben.“
Aletheas Herz raste, und sie presste die Hände im Schoß zusammen, sodass Barrington es
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