Der Kuss Im Kristall
seinem Leben schon alles Mögliche vorgeworfen, aber niemals, ein Feigling zu sein. „Ich bin noch nie einem Kampf aus dem Weg gegangen, Alethea. Und noch nie habe ich Hilfe verweigert, wenn man mich darum gebeten hat.“
Sie fuhr herum und starrte ihn an. Ihr Gesicht war gerötet, und Tränen schimmerten in ihren Augen. „Das ist kein Mut, McHugh. Das ist Verzweiflung. Es ist dir gleichgültig, ob du lebst oder stirbst, daher riskierst du nichts, wenn du in einen eiskalten Fluss springst. Du brauchst keinen Mut, um dem Tod über einen Degen oder eine Pistole hinweg ins Auge zu sehen – oder in einem eiskalten Fluss. Wirklichen Mut erfordert es, dem Leben entgegenzutreten mit all seinem Schmerz und all seinen Freuden – und niemals aufzugeben. Du hast aufgegeben, McHugh, daher hast du nichts zu verlieren. Das hat nichts mit Mut zu tun. Das ist Hoffnungslosigkeit.“
Er erhob sich. Die Kälte hatte er vergessen. Seine Decke begann zu rutschen, und gerade an der Hüfte hielt er sie noch fest, ehe er zwei Schritte auf sie zumachte. „Wovon zum Teufel redest du?“
„Von dir! Du bist so niedergeschmettert durch den Tod deiner Frau und deines Sohnes und so besessen von dem Gedanken an Rache, dass du aufgehört hast, irgendetwas zu lieben. Es interessiert dich nicht, ob du lebst oder stirbst, daher stellst du dich jeder Bedrohung, um überhaupt irgendetwas zu fühlen. Und ich – ich …“
Die zornigen Worte, die sie so lange zurückgehalten hatte, waren einfach so aus ihr herausgesprudelt. Weil sie stimmten und ihren Gefühlen entsprachen? „Rede weiter, Alethea. Du – was?“
Sie blickte ihn an, schüttelte den Kopf, ließ sich auf den Stuhl sinken und barg das Gesicht in den Händen. „Ich ertrage es nicht, das länger mit anzusehen.“
„Was mit anzusehen?“
„Wie Rob McHugh sich selbst zerstört.“
Tief in seinem Innern regte sich etwas, wie ein Vogel, der mit den Flügeln flatterte, um fliegen zu wollen. „Warum sollte das für dich wichtig sein?“
Sie räusperte sich. „Ich kann es nicht ertragen, jeden zu verlieren, den ich liebe. Ich habe Mama verloren, Papa und Tante Henrietta …“
War das ein Geständnis, dass sie ihn liebte? Das war unmöglich. Er hatte alles getan, damit sie ihn hasste. Aber was meinte sie dann? Dass sie ihn mochte? Oder dass sie sich verantwortlich fühlte für die Risiken, die er einging? „Ich weiß, wie gern du dir die Lasten anderer aufbürdest, Alethea. Aber glaube nicht, dass du für das verantwortlich bist, was ich tue.“
„Wo habe ich diese Worte nur schon einmal gehört?“, spottete sie und rieb sich die Augen.
Bis zu dem Moment, da sie diese Frage stellte, hatte er nicht bemerkt, dass er den Satz wiederholte, den sie in der Nacht zuvor gesagt hatte. „Ich bin nicht der Einzige, der den Blick fürs Wesentliche verliert“, murmelte er. „Du denkst nur an deine Schwester und deinen Bruder, und wie schlecht es ihnen ohne dich gehen würde. Und daran, deine Tante Henrietta zu rächen. Du riskierst einen Skandal, deinen Ruin, deine Zukunft und sogar deinen hübschen kleinen Hals, um deine Ziele zu erreichen, und zum Teufel mit allem anderen.“
„Dann sind wir uns wohl sehr ähnlich“, gab sie zu und schien erstaunt zu sein über diese Erkenntnis.
Er wollte sie trösten und trat näher. Er wollte so zärtlich zu ihr sein, dass sie sich geborgen fühlte. Er wollte sie so lieben, wie sie es verdiente, nichts zurückhalten und nichts für sich verlangen. „Alethea“, flüsterte er und streckte die Hand aus, um die widerspenstigen Locken zurückzustreichen.
Sie zuckte zurück und blickte ihn traurig an. Dann ergriff sie ihren Umhang und ihren Muff und eilte zur Tür. „Bleib bis morgen früh, McHugh. Bis dahin sind deine Kleider trocken. Es ist genug Feuerholz da.“
„Bleib bei mir, Alethea.“
„Ich kann nicht, McHugh. Du hast es selbst gesagt. Es würde kein gutes Ende nehmen. Wir sind beide zu – verletzt.“
„Aber …“
„Ich werde eine Kutsche nehmen. Mach dir keine Sorgen um mich.“
Mit einem leisen Klicken fiel die Tür ins Schloss, und er ließ sich auf den Stuhl vor dem Feuer sinken.
Als Alethea fort war, kehrte die Kälte zurück. Alles in ihm wehrte sich gegen den Gedanken, sie zu verlieren. Er hüllte sich in die weiche Wolle und suchte in seinem Herzen nach Antworten.
17. KAPITEL
Mit langen Schritten eilte McHugh die St. James Street hinunter. Die frühe Morgensonne spiegelte sich auf dem frisch gefallenen Schnee und
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