Der Kuss
Wellen tobten, das Meer der Gefühle immer wieder schäumend an seinen verdrehten Innereien leckte.
Er fühlte sich sterbenskrank, wenn da nicht zugleich dieser enorme Tatendrang gewesen wäre, immer wieder unterbrochen davon, sich seufzend und kraftlos aufs Bett fallen zu lassen und sich dem kribbelnden Ziehen in seinem Bauch hinzugeben, oder sich Erleichterung zu verschaffen wenn die Gedanken an Lukas zu sehr abdrifteten. Und sie drifteten oft ab.
Der CD-Player sprang zu
dem Lied,
diesem einen Song, bei dem Lukas nach seiner Hand gegriffen hatte. Dieses Lied, schon ohne all diese Gefühlsduselei, war Weichspüler genug. Michael war, als püriere jemand mit einem Stabmixer seine Gedärme, seinen Magen, das Herz, nacheinander, dann wild durcheinander. Er krümmte sich jaulend zusammen und spürte, wie seine Finger immer kälter wurden, Muskeln zu zittern begannen, von denen er gar nicht wusste, dass er sie besaß.
Schließlich sprang er entschlossen hoch, stampfte zur Anlage, drehte sie ab, schlüpfte in seine Schuhe ohne sie zuzuschnüren, und verließ die Wohnung. Dabei versuchte er leise zu sein, es war schon nach zweiundzwanzig Uhr und seine Mutter schnarchte bei einem Fernsehkrimi.
Sachte drückte er die Tür hinter sich zu und schlich über den stockfinsteren Gang zu jener des Nachbarn, presste sein Ohr dagegen. Er konnte nichts hören. Um diese Zeit würde Lukas doch wohl noch nicht schlafen!
Mit polterndem Herzen und schlotternden Knien betätigte er die Glocke. Als würde sie leiser läuten, wenn er sanfter auf den Schalter drückte, hielt er sich zunächst sehr zurück. Doch als keine Reaktion kam, presste er den Finger immer beherzter auf den Knopf – davon wurde der Ton jedoch nicht lauter. Schließlich klopfte Michael gegen die Tür. Auch hier zunächst vorsichtig, dann hämmerte er dagegen, säuselte und zischte abwechselnd Lukas' Namen.
Irgendwo, weiter unten im Haus, wurde eine Wohnungstür geöffnet. Michael hielt den Atem an. Nach einer Weile ging sie wieder zu. Okay, er war so laut gewesen, dass man ihn drei Stockwerke weiter unten auch noch gehört hatte. Also wollte Lukas mal wieder nicht. Das war ja klar gewesen! Hätte Michael sich das nicht denken können?
Als er sich umdrehte um zurückzukehren merkte er, dass er jetzt nicht in sein Zimmer wollte. Er fühlte sich getrieben, und irgendwie wie ein eingesperrtes, wildes Tier. Ein Vergleich, den er mit sich selbst noch nie in Zusammenhang gebracht hatte. Ohne lange zu überlegen trippelte er die Treppen runter. Er wollte raus. Egal wohin, einfach nur aus dem Haus. Vielleicht ein bisschen auf dem Spielplatz herumlungern, oder um den Häuserblock laufen. Ja, die Wut darüber, dass Lukas sich schon wieder verleugnete, trieb ihn an. Vermutlich würde er einige Stunden joggen müssen, um diese negative Energie wegzustrampeln.
Die laue Abendluft empfing ihn, und erst jetzt bemerkte Michael, dass er gar keinen Pulli an hatte. Seit – er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wie lange es her war – trat er das erste Mal nur in Shirt und Jeans vor die Tür. Wenigstens war es dunkel, so würde ihn kaum jemand sehen. Dennoch fühlte er sich schutzlos, aber auch irgendwie leicht und befreit. Es war eine Unart, im Hochsommer mit Kapuzenpulli herum zu rennen, doch wie sonst sollte er seinen schmalen Körperbau verbergen? Wegen der luftigen Kleidung, die so viel verriet, hasste er den Sommer. Andererseits – Lukas würde wohl kaum im Winter mit Muskelshirt herum laufen, oder? Ach, Lukas!
Michael band seine Schuhe zu und warf eine gedankliche Münze, um sich zu entscheiden in welche Richtung er nun los laufen wollte. Erst ein bisschen gehen, dann joggen. Irgendwie war es ihm peinlich als sportlich zu gelten, falls doch jemand aus dem Haus zu ihm herunter schaute. Ob sich alle Menschen dauernd beobachtet fühlten, gemustert und abgewertet? Musste er sich Sorgen machen um seinen geistigen Gesundheitszustand?
„Michael?“, wisperte jemand und er bremste so abrupt ab, dass er beinahe der Fliehkraft zum Opfer gefallen und der Länge nach auf den Asphalt geknallt wäre. Im nächsten Moment sah er auch schon den orange glühenden Punkt, und den geliebten Schatten in der Finsternis der Nacht. Lukas hockte auf der Lehne einer Parkbank, die Füße auf der Sitzfläche. Als Michael auf seinen Zuruf reagierte, sprang er auf und schnippte die Zigarette so rasch weg, dass ihre Glut, von einem Funkenregen begleitet, ins Nichts zischte.
„Ich hätte dich ohne
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