Der Kuss
als ein Angebot gewesen, ihm eine Wunde zuzufügen? Konnte er sich tatsächlich ständig so irren? Streichelte man jemandem so zärtlich den Hals, während man ihn auffordert ihn zu beißen oder zu schlagen?
„Arschloch!“, grunzte Michael, schlüpfte durch die Wohnungstür, knallte sie hinter sich zu und lehnte sich mit verschwommenem Blick dagegen.
***
Seine Mutter trat aus der Küche, trocknete dabei ihre Hände mit einem Geschirrtuch. Als sie ihren Sohn so vernichtet an der Tür hängen sah, stockte sie kurz, doch dann blickte sie darüber hinweg und fragte:
„Hast du die Richtigen mitgebracht?“
Michael warf ihr die Packung zu und stürmte in sein Zimmer. Sie fing gekonnt und nickte erfreut – offenbar hatte ihr Sohn zur Abwechslung mal etwas richtig gemacht.
Michael schlug die Tür hinter sich zu, warf sich bäuchlings aufs Bett, ballte seine Hände zu Fäusten und schrie in die Matratze. Lukas machte ihn wahnsinnig, wahnsinnig, wahnsinnig! Warum musste er sich ausgerechnet in diesen unberechenbaren Arsch verknallen?
Da klingelte es, und Michael konnte hören, wie seiner Mutter der Hörer der Gegensprechanlage aus der Hand fiel und gegen die Tür wummerte. Sie fluchte, als sie das Teil einfing.
Es klopfte, seine Mutter öffnete, Stimmen hallten im Gang wieder. Ihr typisch höfliches Trällern zerrte an Michaels Nerven. Dann schloss sich die Tür wieder – jemand hatte die Wohnung betreten.
Gemurmel, freundliches Geplänkel im Flur, Poltern.
„Du hast Besuch!“, warf seine Mutter in den Raum, als sie die Tür öffnete.
„Kommen Sie nur, er ist in seinem Zimmer“, erklärte sie der Person im Vorraum.
Michael setzte sich rasch auf und zerrte an seinem Pulli. Wer wollte ihn
'jetzt'
besuchen?
Sein Herz setzte für einen Moment aus, als er Lukas entdeckte, der etwas unsicher im Türrahmen stand. Bisher war Michael stets bei ihm drüben gewesen, nie aber hatte sich sein Nachbar hier blicken lassen, was natürlich auch seine Ursache darin hatte, dass es hier eine Mutter gab, drüben eine sturmfreie Bude.
Lukas wirkte in dieser vertrauten Umgebung zugleich kleiner und größer, seltsam irgendwie. Verlegen ließ er den Blick durchs Zimmer gleiten, und hätte er einen Hut gehabt, er hätte ihn mit den Händen vor seinem Körper befangen geknetet. Michael schämte sich ein bisschen für seine Behausung, da sie teilweise noch sehr kindlich eingerichtet war. Ein ewiger Streitpunkt mit seiner Mutter. Budgetschwierigkeiten.
„Was willst du hier?“, erinnerte sich Michael nach der ersten Überraschung, dass er eigentlich sauer war, und schlug einen mürrischen Ton an.
Lukas drückte sachte die Tür hinter sich zu und flanierte dann still im Zimmer herum, als befände er sich in einem Museum, begutachtete alles mit flachem Interesse, als wäre er nur deswegen hier.
Michael betrachtete seinen Nachbarn bei der Inspektion und wartete auf eine Erklärung. Wie klein sein Zimmer auf einmal wurde, nun, wo dieser geliebte Vollpfosten hier war.
Michaels Blick verfing sich im braunen Haar, glitt den muskulösen Rücken hinab und bestaunte, wie sexy die Jeans den Hintern betonte. Am liebsten hätte er Lukas in die Oberschenkel gebissen, wäre ihn glücklich angefallen dafür, hier zu sein, hier bei ihm.
„Du hast recht“, murmelte Lukas schließlich ohne ihn anzusehen, „ich bin wirklich ein Arschloch. Außerdem …“, begann er einen Satz, den er nicht beendete. Stattdessen nahm er einen Totenschädel aus Gips in seine Hände, der beinahe Originalgröße hatte. Er wog ihn und betrachtete ihn von allen Seiten. Als er sich herumdrehte, bohrte er dem Gipskopf die Daumen in die Augenhöhlen und erklärte:
„Ich wollte dich küssen.“
Michael wurde es eiskalt, und er musste sich auf sein Bett setzen, da die Knie ihn nicht mehr tragen wollten. Lukas' Mundwinkel wackelten nervös und sein Blick fixierte den Schädel in seinen Händen.
„Nicht nur vorhin“, fuhr er fort, „Sondern auch im Keller … und auf dem Konzert.“
Michael schnürte es die Kehle zu, seine Lunge wurde starr wie Metall. Auf dem –
Konzert?
Aber da hatten sie doch gar nicht … er bohrte seine Finger in die Matratze, bis sie sich so verbogen, dass sie wehtaten. Lukas warf ihm einen kurzen Blick zu, als wolle er kontrollieren, wie sein Freund die Sache aufnahm. Dieser starrte ihn fassungslos, mit offenem Mund, an.
„Wenn du es genau wissen willst, ich habe dir keinen Gefallen getan, als ich dich das erste Mal geküsst habe. Ich
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