Der Kuss
Wangen senkte Michael den Blick, schämte sich, rechnete damit, dass Lukas lachen würde, wie seine Mitschüler in der Umkleidekabine. Michael überkreuzte die Arme schützend vor seinem Körper, auch wenn er wusste, dass er damit nicht viel verbergen konnte. Lukas vergrub sein Gesicht in Michaels Shirt um den Duft aufzusaugen und warf es auf den Boden.
„Was ist?“, hauchte er irritiert, als er Michaels panischen Gesichtsausdruck und seine verschlossene Körperhaltung bemerkte. Michael bückte sich rasch, klaubte das Shirt vom Boden auf und presste es vor seine Rippen.
„Mir ist kalt!“, log er. Der Schweißfilm auf seiner Haut strafte ihn Lügen. Mit nervösen Fingern versuchte er das Shirt zu ordnen, um hinein schlüpfen zu können. Lukas beobachtete ihn dabei bestürzt und kratzte sich verunsichert an der Schulter. Kaum hatte Michael das Shirt übergestreift, bereute es auch schon. Jetzt kam er sich angezogen noch blöder vor, als entblößt zu sein. Er konnte Lukas gar nicht ansehen, griff stattdessen zu seiner Bierdose und schlürfte daraus.
„Ich habe ja gesagt, dass das nicht passt“, murmelte Lukas schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit peinlichen Schweigens, und ließ sich ins Sofa plumpsen. Michaels Magen verkrampfte sich und er starrte verzweifelt zu seinem Freund, wollte etwas sagen, konnte nicht.
„Ich meine, es liegt auf der Hand. Du kannst nicht anders. Wie sollst du dich auch auf jemanden wie mich einlassen. Das widerspricht gänzlich deiner Natur. Ich meine – sieh dich an …“, faselte Lukas vor sich hin, und kippte die halbe Dose Bier in einem runter. Michael hörte dumpfes Rauschen, Panik breitete sich aus.
„Wie meinst du das?“, piepste er, schluckte und spürte, wie seine Augen zu brennen begannen. Der Tag hatte wunderbar begonnen, hatte sich angefühlt wie ein neues Leben. Nach gestern Nacht hatte er gedacht, sie wären jetzt zusammen. Vielleicht hätte er doch auch die anderen Dinge beachten sollen, die Lukas angedeutet hatte, anstatt sich Hals über Kopf in die Verliebtheit zu stürzen. Andererseits – hatte er eine Wahl? Verliebt war er so oder so, daran würde er so schnell nichts ändern können. Die Frage war vielmehr: Würde das die
schönste
oder die
schlimmste
Zeit seines Lebens werden?
„Du bist eine Klasse zu gut für mich.“ Lukas nickte tapfer, aber als er Michael ansah, war etwas zu viel Glanz in seinen Augen und die Lider wiesen einen sanften Rotton auf.
„Zu –
gut?“,
platzte es verdattert aus Michael heraus. Was behauptete Lukas da? Er war reifer, er lebte bereits unabhängig, er sah umwerfend aus – was faselte er da von
Klasse?
Michael war im Vergleich zu ihm gar nichts. Er ging noch zur Schule und lebte bei einer Mutter, die ein Fahrrad für ein Motorrad hielt, ihn zwang, einen Helm zu tragen wenn er radelte. Mal abgesehen von seinen körperlichen Unzulänglichkeiten.
„Ja. Du hast eine fürsorgliche Mutter, die sich um dich kümmert. Du bist klug, wirst vielleicht studieren und mal einen tollen Job haben. Du siehst gut aus, da werden die Männer bald Schlange stehen.“ Beim letzten Satz grinste Lukas schief. Michael errötete erst verlegen –
gut aussehen?
Doch dann schlug der Inhalt der anderen Worte ein.
Wer
hatte gestern Nacht vom Leben im
hier und jetzt
gefaselt und hing sich nun an irgendwelchen Zukunftsgespinsten auf? Michael begann zu kochen, musste sich zusammen reißen, um ruhig stehen zu bleiben, ballte stattdessen seine Hände zu Fäusten.
„Ist dir eigentlich klar, was für ein Arsch du bist?“, presste er hervor, bemüht darum, nicht zu schreien.
„Sag bloß!“, gab Lukas cool von sich und zuckte auch noch gespielt unbekümmert die Schultern.
Michael begriff jetzt, warum Lukas auf die Waschmaschine eingeprügelt hatte. In diesen Minuten hätte er nichts lieber gemacht, als so lange auf etwas einzudreschen, bis er keine Kraft mehr hatte. Er setzte sich in Bewegung, lief hin und her – viel Platz war nicht – sein Blutdruck stieg an, er stand bis unter die Haarwurzeln unter Strom, wollte am liebsten aus der Haut fahren.
„Wie ist das im Augenblick? Willst du was von mir?“, zischte Michael schließlich wutentbrannt, nachdem er mit sich um verschiedenste Gesprächsanfänge gerungen hatte. Lukas schaute ihn verwundert an, überwältigt von dem Zorn, den sein schmächtiger Nachbar ihm gerade entgegenbrachte, nickte leicht.
„Und warum faselst du dann – ausgerechnet
du
– nach deinem Vortrag gestern, davon,
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