Der lange Schatten
Aktion verfolgt. Ein kurzes Flackern seiner Augen signalisierte Céline eine Art komplizenhaftes Einverständnis. Ahnte er, dass sie ihr Mobiltelefon eingeschaltet hatte?
Christian Chatel hatte das Gesicht zur Seite gedreht und dachte fieberhaft nach. Er konnte kaum fassen, was soeben geschehen war. Bevor der tödliche Schuss auf die Kassiererin fiel, hatte nur ein Gedanke ihn durchzuckt: Eine Minute früher, und du wärst draußen gewesen! Hättest du dir an der Kasse nicht so viel Zeit gelassen und Bernadette schöne Augen gemacht, dann … Jetzt lag sie leblos und blutüberströmt in seinem Blickfeld. Er und die anderen befanden sich in der Gewalt eines durchgeknallten Typen, der vor nichts zurückschreckte. Wäre ihm das möglich gewesen, hätte Christian jetzt laut aufgelacht, so absurd erschien ihm die Situation. Ein Krimiautor in der Gewalt eines Bankräubers … Es war geradezu zynisch. Vor einigen Jahren, in seinem zweiten Roman, »Der Atem der Angst« , hatte es als Nebenhandlung einen Banküberfall gegeben. Auch da war eine Geisel ermordet worden. Kurz darauf hatte die Polizei die Bank gestürmt und den Täter erschossen. Seinerzeit war Christian überzeugt gewesen, dass seine Fantasie ausreichte, um das Geschehen realistisch zu schildern. Er hatte sich in die Personen hineinversetzt, ihre Angst nachempfunden, Spannung aufgebaut. Doch hier ging es nicht um Geschichten und Fantasie, hier befand er sich mitten drin im realen Geschehen. Es ging um Leben und Tod, um seine eigene, ganz persönliche Angst im Hier und Jetzt. Alles würde davon abhängen, wie die hier anwesenden Personen sich verhielten und wie die Dinge sich entwickelten. Bernadette Gaspard hatte einen entscheidenden Fehler begangen, und der hatte sie das Leben gekostet, einfach so. Vermutlich gab es hinter ihrem Schalter einen Alarmknopf, am Boden oder an einer Kante ihres Schreibtisches. Sie hatte ihn mit dem Bein oder dem Fuß betätigt, und jetzt war die Sicherheitsschleuse verriegelt. Diente dieser Knopf auch zur Alarmierung der Polizei? Christian war davon überzeugt. Dann konnte es nicht mehr lange dauern, bis ein Riesenpolizeiaufgebot draußen vor der Bank Stellung bezog. Die Gefahr für die Geiseln würde sich dadurch zuspitzen, je nachdem, welche Strategie Polizei und SEK verfolgten.
Der Ärger über das knappe Zeitfenster, in dem er die Bank hätte verlassen können, wich immer mehr einem Gefühl der Angst. Wie eine Endlosschleife durchlebte er das Geschehen immer wieder bis zu dem Zeitpunkt, als er sich auf den Boden gelegt hatte. Nachdem er am Kassenschalter seine Geldbörse wieder eingesteckt hatte, ging er mit beschwingten Schritten zum Ausgang der Bank. In Gedanken studierte er bereits die Menükarte beim Thailänder in der Nähe seiner Wohnung, wo er heute zu Mittag essen wollte. Der junge Bankangestellte von Schalter zwei stand von seinem Platz auf, hielt seinen Schlüssel in der Hand, bereit, hinter ihm die Bank zusperren. Christian betrat die Sicherheitsschleuse, die sich nach wenigen Sekunden öffnete, und griff nach der Klinke der massiven hölzernen Eingangstür. Diese wurde im gleichen Moment von außen aufgestoßen, und Christian blickte in den Lauf einer Pistole. Ein maskierter Mann, mit Handschuhen und in dunkler Kleidung, drängte ihn zurück. Im gleichen Moment verließ der Bankangestellte die Sicherheitsschleuse. Der Maskierte packte ihn am Handgelenk und zischte: »Schließ die Tür ab, na los, wird’s bald?« Zu Christian sagte er: »Und du, mach die Jalousien zu. Los, auf beiden Seiten!« Um seinen Befehlen Nachdruck zu verleihen, hielt er seine Waffe in Hüfthöhe abwechselnd auf beide Männer gerichtet. Mit zitternden Fingern steckte der Bankangestellte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal um. Gleich darauf riss der Maskierte ihm den Schlüssel aus der Hand und stopfte ihn in seine Hosentasche.
Mechanisch gehorchte Christian. Rechts und links der hölzernen Eingangstür waren an den beiden Fenstern zum Boulevard Diderot blaue Vertikaljalousetten angebracht. Er betätigte die Schnüre, und die Jalousetten schlossen sich. Die Sicht nach draußen war nun versperrt.
»Los, beide zurück in den Schalterraum. Und sorg dafür, dass die Schleuse geöffnet bleibt, sonst knall ich dich ab!«, sagte der Mann zu dem Bankangestellten. »Bewegt auch!« Er stieß Christian und den Angestellten in die Schleuse und folgte ihnen. Es war eng in der kleinen Kabine, und Christian spürte den Lauf der Waffe in
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