Der lange Schatten
zum Mittagessen zurück war. Wie spät mochte es sein? Normalerweise aßen Marguerite und ihre Mutter um halb eins zu Mittag. Maman legte Wert auf Pünktlichkeit und wich nie von ihren Gewohnheiten ab. Bevor sie zur Bank gegangen war, hatte Marguerite das Essen schon vorbereitet. Sie brauchte es nur noch aufzuwärmen.
Marguerite presste verzweifelt die Lippen aufeinander. Es war nicht abzusehen, wann sie die Bank wieder verlassen konnte. Wenn sie überhaupt lebend hier herauskam! Sie spürte, wie ihr Mund ganz trocken wurde. Ihre Hände zitterten. Ihr linkes Knie, das sich schon seit geraumer Zeit immer wieder mit starken Schmerzen meldete, tat jetzt höllisch weh. Ein Dauerschmerz, der bis in den Oberschenkel zog. Als würde man ihr ein Messer ins Fleisch bohren. Der Schmerz und die Angst vor dem, was geschehen war, und vor dem, was kommen mochte, waren überwältigend. Schwach und ihrem Schicksal ausgeliefert lag sie auf den Steinplatten hier im Schalterraum der Bank, und das Stechen in ihrem Knie wurde immer unerträglicher.
Als es plötzlich geschah, spürte Marguerite es, doch sie konnte es nicht verhindern. Etwas Warmes floss zwischen ihren Beinen entlang und suchte sich einen Weg durch den Stoff ihrer Hose. Aus Scham und Verzweiflung fing Marguerite leise an zu weinen. Sie hoffte inständig, dass der Maskierte es nicht bemerkte. Was würde passieren, wenn er sie erschoss? Das durfte nicht geschehen! Dann wäre Maman ganz allein auf der Welt. Wer würde sich um sie kümmern? Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir …
Der Maskierte sagte etwas, was Marguerite nicht genau verstand. Nur das Wort »Plastikfesseln« drang in ihr Bewusstsein. Dann herrschte sekundenlang eine unheimliche Stille im Schalterraum, wie der Vorbote eines großen Unglücks. Konnte es denn noch schlimmer kommen? … dein Stecken und Stab trösten mich …
Marguerite vernahm Schritte, dann ertönte die laute Stimme des Maskierten.
»Los, fang bei der Oma vorn an der Kasse an!«
Jemand bewegte sich auf sie zu, beugte sich zu ihr. Es war Monsieur Nadal, ihr Bankberater. Die sonst so sorgfältig gekämmten Haare fielen ihm ins Gesicht, sein Blick flackerte angstvoll.
»Tut mir leid, Madame Brancard«, flüsterte er kaum hörbar. »Legen Sie bitte Ihre Hände auf den Rücken.«
Marguerite ahnte, was das bedeutete. Sie folgte der Aufforderung und spürte, wie sich ihre Schulter gegen die ungewohnte Bewegung auflehnte. Ein weiterer Schmerz durchzuckte Marguerites Körper.
»Nicht so fest, Monsieur Nadal. Bitte nicht so fest!« flehte sie mit tränenerstickter Stimme und hoffte zudem, dass der junge Mann nicht mitbekam, welches Malheur ihr passiert war.
Ein dünnes Band legte sich um ihre Handgelenke. Erneut näherten sich Schritte, und eine grobe Hand zurrte das Band mit einem Ruck fest. Marguerite schrie vor Schmerz auf.
»Nur nicht so zimperlich«, sagte der Maskierte zu dem Bankangestellten. Dann lachte er kurz auf. Ein gehässiger, bedrohlicher Laut, bei dem Marguerite erneut zusammenzuckte.
»Die Oma hat sich vor Angst in die Hosen gepinkelt!«, rief und versetzte Marguerite einen kräftigen Tritt. Sie wusste nicht, welches Gefühl schlimmer war: der Schmerz an ihrem Hüftknochen oder die unendliche Scham.
»Und jetzt der Nächste!«, herrschte der Maskierte den Bankangestellten an. »Aber ein bisschen plötzlich!«
5. KAPITEL
Der Hausbesitzer Dominique Faubin wohnte in der Rue de la Colombe, wenige Schritte vom Tatort Rue Massillon entfernt. LaBréa hatte sein Kommen telefonisch angekündigt, um sich den Haustürcode geben zu lassen. Seine Mitarbeiter würde er um vierzehn Uhr zur Talkrunde in seinem Büro treffen. Bis dahin gab es hoffentlich erste Ermittlungsergebnisse und Resultate der Spurensicherung.
Dominique Faubin wohnte im zweiten Stock eines herrschaftlichen Hauses. Gehörte es ebenfalls ihm? LaBréa würde es herausfinden.
Es gab Menschen, für die empfand er auf den ersten Blick so etwas wie Sympathie. Dominique Faubin gehörte nicht dazu. Als er seine Wohnungstür öffnete, blickte LaBréa in ein mürrisches Gesicht mit hellbraunen, misstrauischen Augen. Dieser Mann schien kein Freund der Polizei zu sein. Nur widerwillig ergriff er LaBréas ausgestreckte Hand.
»Darf ich reinkommen, Monsieur Faubin?«
Der Mann nickte vage.
»Lässt sich ja nicht vermeiden. Aber viel kann ich Ihnen sowieso nicht sagen. Ich kannte den Mieter kaum.«
Bevor LaBréa die Tür
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