Der lange Schatten
Andrieu hatte sich jetzt zu ihnen gesellt. Beim Anblick der erschossenen Kassiererin schüttelte sie den Kopf.
»Ich fürchte, ich kann hier nicht viel tun, Maurice. Der Mann will nicht verhandeln.«
»Trotzdem – deine Einschätzung, Véronique?«
»Wie ich schon sagte: Er steht unter höchstem Stress, dennoch plant er anscheinend eiskalt seine Vorgehensweise. Er fühlt sich stark und unbezwingbar. Er wagt es sogar, die Eingangstür einen Spalt zu öffnen, und geht das Risiko ein, dass ein gezielter Schuss ihn unschädlich macht.«
»Vielleicht ist er ja doch nicht allein und hat einen Komplizen?«, warf Capitaine Leconte ein.
»Das halte ich für völlig ausgeschlossen«, bemerkte LaBréa. »Seine Sprache verrät ihn. Ich will einen Wagen … ich gebe euch noch eine Viertelstunde … und so weiter. Der Mann ist definitiv allein.«
»Vermutlich. Und weil er sich stark fühlt, wird er nicht weiter verhandeln«, fügte Véronique hinzu. »Er will den Wagen, das ist seine einzige Chance, und die will er unbedingt nutzen.«
»Der Wagen ist unterwegs, Madame Andrieu.«
»Falls er mit einer Geisel rauskommt, wovon wir ausgehen müssen, könnte ich mich zum Austausch für die Geisel anbieten.« Véronique ließ ihre Worte einen Moment nachwirken. »Vielleicht geht er darauf ein. Dann hätte ich vielleicht eine Chance, das Gespräch mit ihm zu suchen.«
»Wenn er seine Sache unbedingt durchziehen will, wird er sich von dir nicht überreden lassen, aufzugeben!«
»Kommt darauf an, Maurice. In meinem Job hat man bestimmte Techniken, an einen Menschen heranzukommen und seine Handlungen einzuschätzen.«
»Das kann ich nicht verantworten!« Leconte klang entschieden.
»Wieso nicht? Ich habe in den USA eine entsprechende Ausbildung genossen«, entgegnete Véronique ruhig. »In Quantico waren wir mit so was vertraut. Und nicht nur rein theoretisch, Capitaine Leconte.«
LaBréa schaltete sich erneut ein.
»Ich halte das auch für keine gute Idee, Véronique. Es wäre besser, wenn ich mich zum Austausch für die Geisel anbiete. Schon deshalb, weil du einem Mann körperlich unterlegen bist.«
»Du? Dich kennt er doch irgendwoher! Wenn der Typ noch eine Rechnung mit dir offen hat, geht die Sache mit Sicherheit schief.«
»Wie auch immer.« Leconte schickte sich zum Gehen an. »Wer weiß, wie es gleich weitergeht. Dann kann immer noch entschieden werden, ob sich jemand zum Austausch anbietet und wer.«
LaBréa widersprach.
»Nein, Capitaine, das kann sich nicht erst entscheiden, wenn er die Bank verlässt. Wir müssen uns jetzt darüber klar werden, wer sich anbietet, sofern sich die Gelegenheit ergeben sollte.«
»Sie auf jeden Fall nicht, LaBréa. Da gebe ich Madame Andrieu Recht – das Risiko ist zu groß.« Er blickte Véronique einen Moment prüfend an. »Ich ändere meine Meinung. Wenn es dazu kommt, machen Sie es, Madame. Aber auf eigenes Risiko!«
»So was geht immer auf eigenes Risiko, Monsieur Leconte.«
In diesem Moment fing es wieder an zu regnen. Sanitäter aus einem der Krankenwagen deckten Bernadette Gaspards Leichnam rasch mit einer Plane ab und schafften ihn vorsichtig in eine nahe gelegene Tordurchfahrt.
10. KAPITEL
Zeit und Raum flossen ineinander, und Christian Chatel schlüpfte in seine Gedankenwelt wie in eine zweite Haut. Seit einigen Minuten befand er sich in einer Art Trancezustand. Um die Schmerzen an seinen Handgelenken und das unerträgliche Ziehen in Schultern und Rücken ertragen zu können, hatte er sich selbst in Hypnose versetzt. Er beherrschte diese Technik seit vielen Jahren, und in Stresssituationen war sie stets sehr hilfreich gewesen. Sich aus dem realen Geschehen, einer Situation oder einem Problem ausklinken. Sich ein neues, eigenes Umfeld schaffen. Die Augen schließen. Tief ein- und ausatmen. Eine formelhafte Suggestion erfinden: Ich sitze in meinem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Draußen zeigt sich ein sonniger, klarer Tag. Schwalben durchschneiden das Stück dunkelblauen Himmel vor meinem Fenster. Es ist eine ruhige, friedliche Stimmung. Ein angenehmes, beinahe euphorisches Gefühl durchströmt meinen Körper. Meine Gedanken sind klar. Ich kann sie schicken, wohin ich will, und ihre Ziele lenken. Ich bin eins mit mir, ruhe vollständig in mir. Auf dem Bildschirm meines Laptops ein leeres Word-Dokument, der Beginn eines neuen Romans. Die erste jungfräuliche Seite wartet darauf, dass ich sie mit meiner Fantasie fülle. Titel meines neuen Romans: »Das kalte Licht
Weitere Kostenlose Bücher