Der lange Schatten
schon Tote gegeben hatte. Erfahrungsgemäß wurden Ultimaten, sei es von Flugzeugentführern, Erpressern oder Geiselnehmern, immer wieder verlängert, auch wenn die Täter zu allem entschlossen schienen und mit der Liquidierung von Geiseln drohten. Auch Leconte war von dieser Strategie überzeugt. Gleichwohl hatte er unmittelbar nach dem Anruf des Mannes auf LaBréas Handy angeordnet, dass auf jeden Fall ein Fahrzeug bereitgestellt und entsprechend präpariert wurde. Die Techniker sollten im Wagen ein verstecktes GPS oder ein eingeschaltetes Handy anbringen. Dies war leichter gesagt als getan, denn dafür benötigten die Spezialisten Zeit. Ein Ortungsgerät am Fahrzeug musste so installiert werden, dass der Bankräuber es auf keinen Fall entdecken konnte.
LaBréas Handy klingelte. War das der Geiselnehmer? Auf dem Display erkannte LaBréa die Nummer seines Vorgesetzten Roland Thibon. Er beschloss, das Gespräch nicht anzunehmen und ließ das Gerät klingeln, bis sich die Mailbox einschaltete. Er ahnte, warum Thibon ihn anrief, und er wusste, dass sein Verhalten Konsequenzen nach sich ziehen würde. Aber hier stand das Leben seiner Freundin und das seines ungeborenen Kindes auf dem Spiel. Dafür war LaBréa bereit, jede Konsequenz auf sich zu nehmen. Sein Vorgesetzter hinterließ eine längere Nachricht auf der Mailbox, doch LaBréa hörte sie nicht ab. Sobald seine Leitung wieder frei war, wählte er Francks Nummer am Quai des Orfèvres.
»Hat der Schöngeist Sie schon erreicht, Chef?«, fragte Franck sogleich. »Er dreht hier fast durch.«
»Er hat’s vergeblich versucht, Franck.«
»Irgendwas Neues aus der Bank?«
»Alles unverändert.« In knappen Worten schilderte LaBréa, was sich inzwischen zugetragen hatte.
»Und Leconte? Was hat er vor?«
»Er spielt auf Zeit.«
»Das könnte ein Riesenfehler sein, Chef.«
»Es ist die übliche Vorgehensweise, um den Täter mürbe zu machen und zu Fehlern zu zwingen, die ein rasches Eingreifen erlauben. Man kann den Kerl nicht einfach so abziehen lassen. Womöglich mit einer Geisel im Gepäck.« Es sollte cool und beiläufig klingen, was nicht recht gelang. LaBréa wechselte das Thema. »Wie läuft es bei euch?«, wollte er wissen.
»Keine Spur ins Drogenmilieu. Luc Chambon stammt aus Marseille, ist seit einem knappen Jahr in Paris gemeldet. Keine Krankenversicherung, keine Sozialversicherungsnummer. Der Mann hatte keinen regulären Job.«
»War noch jemand unter seiner Adresse gemeldet?«
»Nein.«
»Was ist mit Fingerabdrücken?«
»Die Jungs von der Spurensicherung waren diesmal besonders fix. In der ganzen Bude gab’s Fingerabdrücke von Chambon, im Bad obendrein welche von einer weiteren Person. Aber Fehlanzeige in allen Datenbanken. Keine Registrierung der Abdrücke. Und noch was, Chef: Corinne hat doch noch die Patronenhülse der Tatwaffe gefunden. Sie war in eine Ritze im Fußbodens gerutscht. Damit ist es jetzt amtlich: Das Kaliber der Waffe ist .45 ACP. Und die Waffe ist tatsächlich eine Glock 21, wie ich vermutet hatte.« Der letzte Satz klang stolz.
»Glückwunsch, Franck, für Ihren guten Riecher.«
»Danke, Chef.«
»Sonst noch was?«
»Jean-Marc hat die Klamotten durchsucht. Nichts. Claudine kümmert sich im Moment um das Handy.«
»Ihr habt ein Handy gefunden?«, fragte LaBréa erstaunt.
»Ach so, das können Sie ja nicht wissen. Claudine hat es im Klo unter einem Haufen Schmutzwäsche entdeckt, nachdem Sie schon weg waren.«
»Eingeschaltet?«
»Ja, zum Glück.«
»Wenigstens etwas, Franck.«
»Ob es Chambon gehört, wird sich noch rausstellen.«
»Gebt mir Bescheid, wenn ihr irgendwas Neues habt.«
»Machen wir.«
»Eine Bitte, Franck. Hier vor der Bank steht ein schwarzer Motorroller. Eine Vespa GTS 125, glaube ich. Ich geb dir die Zulassungsnummer.« Er nannte Franck die Zahlen. »Finde doch mal raus, wem der Roller gehört.«
»Vielleicht einer der Geiseln in der Bank?«
»Ja, oder dem Bankräuber. Ein Roller ist ein ideales Fluchtfahrzeug, vorausgesetzt, der Überfall klappt rasch und ohne Geiselnahme.«
»Okay, Chef. Ich melde mich wieder.«
Kaum hatte LaBréa sein Handy weggesteckt, packte Véronique ihn am Arm und flüsterte: »Maurice, sieh mal! Die Tür geht auf. Er kommt anscheinend raus!«
Tatsächlich öffnete sich die schwere Eingangstür der Bank. Die Scharfschützen waren in Position. LaBréas Herz klopfte ihm bis zum Hals. Bald würde dieser Albtraum vorbei sein …
Die Tür öffnete sich nur einen Spalt,
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