Der lange Schatten
Backsteinoptik, die zur Ausstattung des SEK gehörten, waren auf dem Dach postiert worden und boten den Scharfschützen Deckung. Lediglich wer genauer hinsah und die Örtlichkeit gut genug kannte, bemerkte möglicherweise die Veränderung.
LaBréa, Véronique Andrieu und der Direktor der Bank hatten sich in die Rue des Citeaux postiert, von wo aus man den Eingang der LCL-Bank im Blick hatte. Capitaine Leconte befand sich mit seinen Kollegen wenige Meter von ihnen entfernt auf dem Boulevard Diderot, auf derselben Straßenseite wie die Bank.
Jetzt war es also so weit. LaBréa hatte ein schreckliche Vorahnung. Es war klar, mit wem der Geiselnehmer die Bank verlassen würde. Was wusste der Kerl über Céline? Hatte er sie gezwungen, ihm zu erzählen, in welcher Beziehung sie zu LaBréa stand? Das konnte fatale Folgen für sie haben. Die ganze Zeit über hatte LaBréa fieberhaft überlegt, ob ihm die Stimme des Mannes bekannt vorkam. Er fand keine Antwort. Gerade an die Stimme eines Menschen erinnerte sich LaBréa normalerweise noch nach vielen Jahren. Doch hier – er fand keinen Hinweis. Er hätte schwören können, dass er die Stimme des Geiselnehmers heute zum ersten Mal in seinem Leben gehört hatte.
Der Regen wurde immer stärker. Tief hingen die Wolken, und es war so dunkel, als bräche jeden Moment die Abenddämmerung herein. Dabei war es erst Viertel vor zwei am Nachmittag. Es kam LaBréa wie eine Ewigkeit vor, seit er mit dem jungen Taxifahrer aus der Rue de la Colombe gekommen war.
Wie gebannt starrte er auf den Eingang der Bank. Die Sicht auf die Tür war durch den dicht davor parkenden Wagen verstellt.
Jetzt klingelte LaBréas Handy. Hatte der Geiselnehmer seinen Plan geändert? Stellte er weitere Forderungen? LaBréas Hand zitterte, als er das Gerät aus der Hosentasche fingerte.
Doch auf dem Display sah er die Nummer von Franck. Dieser Anruf kam im ungünstigsten Moment. Rasch drückte er die Empfangstaste.
»Jetzt ist es ganz schlecht, Franck. Die Sache hier spitzt sich zu. Der Kerl wird jeden Moment die Bank verlassen und in den Fluchtwagen steigen.«
»Wenn’s nicht dringend wäre, würde ich Sie nicht anrufen, Chef. Der Motorroller, der vor der Bank geparkt ist, wurde heute Morgen als gestohlen gemeldet. Vielleicht gehört er dem Typen, der die Bank überfallen hat?«
LaBréa hörte nur mit halbem Ohr zu.
»Ja, gut möglich, Franck. Im Augenblick ist das aber nebensächlich. Ich muss Schluss machen, Franck.« Er drückte das Gespräch weg, steckte das Handy rasch ein und spähte angestrengt Richtung Bank.
Jetzt gab es eine Bewegung an der Eingangstür. Durch den dicht fallenden Regen war es schwer, Genaueres zu erkennen. Dennoch sah LaBréa, wie sich die Eingangstür öffnete und eine Frau, der man eine Waffe an den Kopf hielt, vom Geiselnehmer durch die Beifahrertür auf den Fahrersitz gestoßen wurde.
»Ich hab’s gewusst«, flüsterte er. »Es war klar, dass er Céline und keine andere nehmen würde.«
Véronique Andrieu zog ein kleines Fernglas aus der Tasche ihres Regenmantels und richtete es auf den Wagen.
»Ja, es ist Céline. Verdammt noch mal! Es tut mir leid, Maurice.«
LaBréa riss ihr das Fernglas aus der Hand und blickte hindurch. Céline saß am Steuer des Wagens, der soeben losfuhr. Die Gestalt auf dem Beifahrersitz war nicht genau zu erkennen. LaBréa begriff nur, dass der Mann groß war und dunkle Kleidung trug. LaBréa konnte nicht sagen, ob er ihn schon einmal gesehen hatte. Das Bild wurde unscharf. Der Wagen wendete rasch und brauste Richtung Place de la Nation davon. Die Scharfschützen auf dem Flachdach des Nebengebäudes hatten nicht die geringste Chance gehabt, den Geiselnehmer auszuschalten.
LaBréa packte Véronique unsanft am Arm.
»Wo steht dein Wagen?«
»Gleich hier in der Straße. Einer von Lecontes Leuten hat ihn dort geparkt, nachdem ich eingetroffen war.«
»Hast du den Schlüssel?«
»Ja, hab ich.«
»Dann komm!« LaBréa rannte los.
Véronique folgte ihm. Im Laufen rief sie ihm zu: »Leconte hat doch Maßnahmen getroffen, damit der Wagen verfolgt wird, Maurice.«
»Ja, aber ich nehme die Dinge lieber selbst in die Hand! Mit Leconte bleiben wir übers Telefon in Verbindung.«
Kurze Zeit später saß LaBréa am Steuer von Véroniques schnellem BMW-Coupé. Es regnete so stark, dass die Scheibenwischer die Wassermassen kaum bewältigen konnten. Als der BMW in den Kreisverkehr der Place de la Nation einbog, bemerkte LaBréa den grünen Renault,
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