Der lange Schatten
gerade so viel, dass ein Mensch sich hindurchzwängen konnte. Auf der Straße, inmitten des ganzen Polizeiaufgebots, war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
Doch der Geiselnehmer erschien nicht. Stattdessen wurde rasch ein menschlicher Körper durch den Spalt nach draußen geschoben. Es geschah so schnell und mit solcher Kraft, dass die Polizei völlig überrumpelt wurde.
Es war der Körper einer Frau. War sie tot oder schwer verletzt? Dunkle Blutflecken hatten ihren hellen Pullover durchtränkt. Sie fiel mit dem Kopf zuerst auf den Bürgersteig. Mit einem Knall wurde die Eingangstür wieder geschlossen. Die Scharfschützen hatten keine Chance gehabt, den Eingang zu stürmen und den Geiselnehmer unschädlich zu machen. Dass er es gewesen war, der den Körper ins Freie gestoßen hatte, schien zweifelsfrei. Für einen kurzen Augenblick hatte LaBréa eine Hand mit einem dunklen Handschuh gesehen.
Der Schock war so groß, dass zunächst niemand ein Wort sagte. Véronique schlug sich die Hand vor den Mund und starrte auf die Szenerie. LaBréa kannte die Frau nicht, und eine Welle der Erleichterung durchzog seinen Körper, weil es sich nicht um Céline handelte.
Hinter ihm ertönte die Stimme des Bankdirektors.
»Um Himmels willen«, sagte er beinahe flüsternd. »Das ist Bernadette Gaspard, unsere Kassiererin!«
Guy Thinot spürte seine Hände nicht mehr. Auch die Arme waren inzwischen gänzlich taub geworden. Das Blut staute sich im Körper, die Schläfen klopften. Der Blumenhändler hatte das Gefühl, als könnte sein Kopf jeden Moment platzen. Er war übergewichtig und hatte einen zu hohen Cholesterinspiegel. Vor zwei Jahren meinte sein Arzt, er sei der klassische Schlaganfallkandidat. Deshalb: kein fettes Essen, wenig Alkohol, keine Zigaretten, keine Aufregungen. Nach Möglichkeit Sport treiben. Letzteres war Guy Thinot immer schwergefallen. Das Rauchen hatte er sofort aufgegeben. Obwohl sich sein Alkoholkonsum seit Jahren lediglich auf ein bis zwei Glas Wein zum Mittagessen belief und fettes Essen tabu war, hatte er kaum an Gewicht verloren. Aufregungen gab es bei ihm weder privat noch beruflich. Doch jetzt befand er sich in der Gewalt eines Wahnsinnigen, und sein Adrenalinspiegel war sicher stark erhöht. Die Angst vor weiteren Schmerzen und die Furcht, von dem Maskierten erschossen zu werden, hielten ihn mit eiserner Faust umklammert. Er musste dringend auf die Toilette und fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis ihm dasselbe passierte wie Marguerite Brancard?
Als die Sicherheitsschleuse plötzlich aufging, keimte ein Funken Hoffnung in ihm auf. Würde der Bankräuber das Angebot der Polizei annehmen und die Bank verlassen? Natürlich nicht! Der Maskierte rührte sich nicht, grinste nur und tippte sich mit dem Finger an die Stirn, als die Schleuse sich öffnete. Danach hatte er über das Handy der dunkelhaarigen Frau seine Forderungen an die Polizei gestellt. Wieso ging die Polizei nicht darauf ein und stellte sofort einen Wagen bereit? Wieso riskierten sie das Leben der Geiseln? Guy Thinots kleiner Hoffnungsschimmer erlosch wie ein Zündholz. Eine ohnmächtige Wut stieg in ihm auf und überstrahlte einen Moment seine Schmerzen und seine Todesangst.
Die dunkelhaarige Frau hinter ihm stöhnte. Ihr Mund war halb geöffnet, und immer wieder benetzte sie mit der Zunge ihre Lippen.
Marguerite Brancard lag bewegungslos vor dem Kassencounter. War sie bereits tot? Ein Herzschlag vielleicht? Nein, jetzt vernahm Guy ihr leises Stöhnen.
Mehrere Male klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch des Bankangestellten Léo Nadal. Der Bankräuber ignorierte die Anrufe. Er stand bewegungslos an der Wand und wartete. Hin und wieder blickte er auf seine Uhr.
Von draußen ertönte wieder die Stimme durch das Megafon.
»Wenn Sie nicht ans Telefon gehen, Monsieur, muss ich es Ihnen auf diese Weise sagen. Der Wagen, den Sie angefordert haben, ist bereits unterwegs. Aber da es mehrere Verkehrsstaus in der Stadt gibt, verzögert sich seine Ankunft noch etwas. Ich rufe Sie jetzt nochmals an. Bitte nehmen Sie den Hörer ab!«
Kurz darauf läutete erneut das Telefon. Doch auch diesmal ignorierte der Mann es.
Dann plötzlich schien er einen Entschluss zu fassen. Mit der Pistole in der rechten Hand marschierte er zu der toten Kassiererin, riss mit der linken Hand ihren Körper hoch und schleifte ihn durch die geöffnete Schleuse zur Eingangstür. Unter Schmerzen veränderte Guy leicht seine
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