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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra von Grote
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über der Stadt«. Die Hauptgestalt, ein junger Mann namens Benoît, ist gerade fertig mit dem Studium und wird in wenigen Tagen seine erste Stelle als Grundschullehrer antreten. Mit seiner Freundin Joséphine, die noch studiert, lebt er in einer kleinen Wohnung in der Rue Bergère. Die beiden sind ein glückliches Paar, obwohl oder vielleicht gerade weil ein schreckliches Ereignis sie zusammengeführt hat. An jenem Tag im Mai des vergangenen Jahres warteten beide auf die Métro Richtung Bastille, als ein Selbstmörder sich vor einen einfahrenden Zug warf. Als Zeugen, die von der Polizei zum Hergang des Geschehens vernommen wurden, warteten sie auf dem stickigen Flur des Kommissariats. So hatte der Tod eines anderen ihnen eine gemeinsame Zukunft beschert.
    Eines späten Vormittags geht Joséphine zu ihrer Bank, um etwas Geld abzuheben. Danach haben sie und Benoît sich zum Mittagessen beim Thailänder verabredet. Doch Joséphine kommt nicht. Benoît wartet eine halbe Stunde, eine Stunde. Er versucht, sie über ihr Handy zu erreichen. Es ist ausgeschaltet. Ohne etwas gegessen zu haben, verlässt er das Restaurant. Vielleicht musste Joséphine aus irgendeinem Grund nach Hause? Eine Unpässlichkeit, ein plötzlicher Schwächeanfall? Doch in der gemeinsamen Wohnung ist sie nicht. Benoît ruft ihre Eltern an, ihre Studienkollegin, mit der sie ein Referat vorbereitet. Nichts. Joséphine scheint spurlos verschwunden zu sein. Der erste Anruf bei der Polizei gegen drei Uhr am Nachmittag führt keinen Schritt weiter. Für eine Vermisstenanzeige ist es noch zu früh. Der Polizist auf dem Kommissariat fragt: Wer weiß, wo sich Ihre Freundin rumtreibt? Er meint es scherzhaft, doch es klingt anzüglich, und Benoît legt auf. Ruft in den Krankenhäusern der Stadt an. Vielleicht hatte sie einen Unfall und ist verletzt? Doch sie wurde nirgendwo eingeliefert. Kurz vor sieben meldet Benoît sich erneut bei der Polizei. Immer noch wollen sie nichts unternehmen. Seine Angst um Joséphine wird zunehmend größer. Um sie in den Griff zu bekommen, kippt er zwei doppelte Whisky pur herunter. Dann schaltet er den Fernsehapparat an und erfährt in den Nachrichten, dass in einer Bank im 9. Arrondissement zu Mittag ein Überfall mit Geiselnahme stattgefunden hat. Bis jetzt ist es der Polizei nicht gelungen, die Sache zu Ende zu bringen. Es ist die Bank, bei der Joséphine Kundin ist …
    Tief ein- und ausatmen. Am blauen Himmel vor meinem Fenster schwebt eine Schäfchenwolke vorbei. Überlegen, wie diese Geschichte weitergehen könnte. Die Polizei wird auf der ganzen Linie versagen, und Benoît wird derjenige sein, der am Ende der Held ist … Tief ein- und ausatmen, die Augen geschlossen halten. Die Geschichte ist gut, das könnte ein tolles Buch werden! Den Blick wieder senken auf die Tastatur des Laptops. Entscheidend ist immer der erste Satz, nachdem man im Schreiben eine Pause gemacht und überlegt hat.
    Die Abenddämmerung tauchte die Straße und die Gebäude rund um die Bank in ein kaltes Licht …
    »He, willst du hier einpennen, oder was?« Eine bellende Stimme an Christian Chatels Ohr riss ihn aus seinem Trancezustand und der Fortsetzung der Story, in die er eingetaucht war. Gleich darauf verspürte Christian einen Tritt in die Seite, der ihm sekundenlang die Luft raubte. Der Schmerz war so stark, dass ihm ganz schwarz vor Augen wurde. Der Maskierte hatte voll die Leber erwischt. Er zwang sich, ruhig zu atmen, und öffnete die Augen. Das Erste, was ihm auffiel, war das Fehlen des Leichnams von Bernadette Gaspard. Was hatte der Geiselnehmer damit gemacht? Jetzt erinnerte sich Christian: Er hatte die tote Kassiererin durch den Schalterraum zur Eingangstür geschleift und sie den Bullen vor die Füße geworfen. Das war kurz bevor Christian mit der Selbsthypnose begonnen hatte, während der er die wunderbare Idee zu einem Roman entwickelt hatte. Ein Buch, das auf eigenen Erlebnissen beruhte! Also authentisch war. Wenn er die Geiselnahme in dieser Bank überlebte, würde Christian das Geschehen zu einem neuen Kriminalroman verarbeiten. Das wäre dann vielleicht endlich sein Durchbruch als Autor. Bei diesem Gedanken durchströmte ihn eine Welle von Euphorie und ließ ihn seine Schmerzen und die missliche Lage, in der er sich befand, für einen Moment vergessen. Hellwach musste er jetzt sein, damit er kein Detail verpasste! Alles, was in dieser Bank noch geschah, wäre ja Vorlage für seine Geschichte. Christians Herz schlug noch heftiger,

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