Der lange Schatten
Lage, um das Geschehen weiter zu beobachten. Er ahnte, was der Mann vorhatte. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Das konnte der Moment sein! Wenn der Kerl die Eingangstür öffnete, um die Leiche nach draußen zu stoßen, dann konnten sie ihn doch überwältigen!
Jetzt hatte der Mann die Schleuse verlassen und befand sich mit der toten Kassiererin direkt vor der Eingangstür. Er holte einen Schlüssel aus der Hosentasche und steckte ihn behutsam ins Türschloss.
Die Sicherheitsschleuse!, dachte der Blumenhändler. Jetzt müsste sie sich einfach nur schließen, und der Maskierte könnte nicht mehr zurück in den Schalterraum! Die Schleuse war vermutlich durch die Polizei geöffnet worden. Die wussten also, wie man den Mechanismus von außen betätigt! Aber sie konnten nicht ahnen, dass der Gangster soeben an die Eingangstür trat und damit in der Falle saß, wenn sie ihm dem Weg zurück in den Schalterraum versperrten. Nein, die Schleuse würde sich nicht schließen, und der schreckliche Albtraum ging vorerst weiter. Die Verzweiflung über diese Erkenntnis traf ihn mit aller Wucht.
Was als Nächstes passierte, ging so schnell, dass Guy es kaum mitbekam. Der Mann hatte den Leichnam der Kassiererin nach draußen befördert und die Tür sofort danach wieder abgeschlossen. Mit der Pistole im Anschlag kam er durch die Sicherheitsschleuse zurück, blieb kurz stehen und sagte mit eisiger Stimme: »So. Damit auch die Bullen da draußen kapieren, dass ich es ernst meine.« Er nahm das Handy der dunkelhaarigen Frau aus seiner Hosentasche und machte sich daran zu schaffen. Tippte er eine Nummer ein? Schrieb er eine SMS? In jedem Fall konnte das nur bedeuten, dass er jetzt doch Kontakt mit der Polizei aufnahm.
Der Schweiß, der unentwegt über Guy Thinots Gesicht rann, hatte dunkle Flecken auf dem Fußboden hinterlassen. Er schob sein wie von tausend Bienenstichen brennendes Gesicht weiter nach rechts, auf eine kühle Stelle des Steinfußbodens. Resigniert schloss der Blumenhändler die Augen. Wie spät mochte es sein? Wie würde es weitergehen? Er dachte an seine Frau Betty und fragte sich, ob er sie wohl je im Leben wiedersehen würde.
Zwei Polizisten des SEK bargen den Leichnam der Kassiererin Bernadette Gaspard und zogen ihn seitlich auf den Bürgersteig. Capitaine Leconte rannte zu der Stelle, genau wie LaBréa und ein Notarzt der SAMU. Vor zehn Minuten hatte Leconte mehrere Krankenwagen angefordert, die auf dem Bürgersteig des Boulevard in einiger Entfernung zur Bank parkten. Der Notarzt legte seine Hand an die Halsschlagader der Kassiererin und schüttelte den Kopf. Auch ohne diese Bestätigung hatte LaBréa sofort erkannt, dass diese Frau tot war. Ein Schuss mitten in die Brust. Das Blut auf dem Pullover und der Jeans war bereits angetrocknet.
Er blickte in Cédric Lecontes helle Augen. Zum ersten Mal wirkten sie nicht mehr kühl und distanziert. Die Tatsache, dass der Bankräuber tatsächlich einen Menschen erschossen hatte, hatte ihn sichtlich getroffen und verunsichert. LaBréa packte ihn am Arm.
»Er macht ernst, Leconte! Sie müssen auf seine Forderung eingehen und sofort den Wagen kommen lassen!« LaBréas Stimme klang flehentlich. In dem Moment summte sein Handy – eine SMS war eingegangen. Célines Namen stand auf dem Display. Während Leconte das Gerichtsmedizinische Institut anrief und Dr. Foucart anforderte, las LaBréa die Nachricht.
»Er gibt uns noch eine weitere Viertelstunde. Mehr nicht«, sagte er zu Leconte. »Danach will er die nächste Geisel erschießen. Alle Sicherheitskräfte sollen sich sofort zurückziehen.«
Er zeigte Leconte die Textnachricht und beobachtete ihn scharf. Was würde er jetzt tun? Der Capitaine schien einen Moment lang unentschlossen. Dann sagte er mit leiser Stimme: »Okay. Wir haben keine andere Wahl. Vielleicht ergibt sich eine Chance, wenn er die Bank verlässt.«
»Die verlässt er nur mit einer Geisel; was anderes kann ich mir nicht vorstellen.«
»Das ist zu befürchten. Aber warten wir’s ab. Meine Scharfschützen sind sehr gut. Das dürften Sie doch wissen, LaBréa.«
Im letzten Jahr hatte einer von ihnen bei der Erstürmung der Wohnung des Concierge Monsieur Hugo den Bastille-Killer zur Strecke gebracht. Doch hier herrschten andere Umstände. Der Unbekannte würde eine der Geiseln als Schutzschild benutzen, um in den Wagen zu gelangen. Ein gezielter Schuss würde immer auch die Geisel gefährden. War Leconte jemand, der das in Kauf nahm?
Véronique
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