Der lange Schatten
»Wenn du mich fragst Maurice, hat er die Gegend um die Rue Mendelssohn schon längst verlassen.«
»Also tatsächlich ein zweiter Fluchtwagen?«
»Mit Sicherheit. Der will raus aus der Stadt oder in einen ganz anderen Stadtteil.«
»Und Céline wird er umbringen«, sagte LaBréa tonlos.
11. KAPITEL
Wie von weit her hörte sie seine Stimme. Und doch nistete sie sich in ihrem Herzen ein wie eine Krebsgeschwulst. Eine Stimme aus einer Welt, mit der Céline im Lauf ihres fünfunddreißigjährigen Lebens noch nie in Berührung gekommen war. Dieser Mann hatte in Sekundenschnelle ihr Leben verändert. Nichts würde jemals wieder so sein wie zuvor. Auch wenn sie diesen Albtraum überlebte, die Ereignisse wären bis in alle Ewigkeit in ihre Seele gebrannt. Das Geschehen würde sie wieder und wieder verfolgen, in ihren Träumen, in allem, was sie tat. Mütter mit schwerer Traumatisierung übertrugen ihre Angst und ihren Stress auf das ungeborene Leben in ihrem Leib. Das Kind, das Céline gebären würde – falls es überhaupt dazu kam –, wäre ebenso ein Opfer dieser Geiselnahme wie Céline selbst und würde Schäden davontragen, die jetzt noch nicht abzusehen waren. Einen Moment dachte sie an Jenny und die Geiselnahme im letzten Jahr durch den Bastillemörder. Zunächst schien das Mädchen das schreckliche Erlebnis gut zu verarbeiten. In letzter Zeit jedoch klagte sie öfter über Albträume, in denen ein fremder Mann ihr den Mund zuhielt und sie zu ersticken drohte.
Der Tritt an den Oberschenkel, den der Maskierte ihr verpasst hatte, schmerzte kaum, verglichen mit den Schmerzen an Célines Handgelenken und im gesamten Schulterbereich. Und beinahe mehr noch als jeder körperliche Schmerz, den er ihr bisher zugefügt hatte, machte ihr die Gewalt zu schaffen, die in seiner Stimme und seinen Worten lag.
»He, du Schlampe, ich hab dich was gefragt! Hast du den Führerschein?«
Sie hatte ihre Augen geschlossen. In rasendem Tempo überschlugen sich Celines Gedanken. Mit einem Schlag war ihr klar, was diese Frage bedeutete. Fieberhaft überlegte sie. Sollte sie Nein sagen? Das konnte sie teuer zu stehen kommen. Wer konnte wissen, was er sonst noch vorhatte? So entschlossen und brutal, wie dieser Mann sich bisher gezeigt hatte, bestand die Möglichkeit, dass er die zurückbleibenden Geiseln erschoss und nur die Person am Leben ließ, mit deren Hilfe ihm die Flucht aus der Bank gelang.
Wenn sie die Frage bejahte, setzte sich das Schreckensszenario für Céline weiter fort, doch sie blieb vorerst am Leben. Und das erschien Céline das Wichtigste, für sich selbst und für das Kind, das sie erwartete. Sie neigte leicht den Kopf und gab dem Geiselnehmer damit das entscheidende Zeichen.
Dass sie durch die schmerzhafte Fesselung der Hände und die gekrümmte Körperhaltung schwach und kraftlos sein würde, hatte sie geahnt. Doch dass sie sich überhaupt nicht auf den Beinen halten konnte, erschreckte sie. Ich muss mich zusammenreißen!, sagte sie sich. Sonst stehe ich das nicht durch, unter höchstem Stress einen Fluchtwagen durch die Stadt zu steuern, einen bewaffneten Mann neben mir. Dieser Kerl ist zu allem fähig und wird alles tun, um seinen Plan durchzuziehen. Was auch immer sein Plan sein mag, du musst die kleinste Chance nutzen, die sich dir bietet.
Wie benommen saß sie wenig später auf demselben Drehhocker vor dem Kundentisch, wo sie am Mittag ihre Überweisungsformulare ausgefüllt hatte. Wie hätte sie ahnen können, dass hier ihr weiteres Schicksal entschieden würde? Zur falschen Zeit am falschen Ort, und plötzlich schnappte eine Falle zu. Hätte man, wäre man, könnte doch … All dies waren sinnlose Überlegungen, weil sich die Zufälle des Lebens der Steuerung durch den Menschen entzogen. Das Schicksal eines jeden Einzelnen bestand aus einer Aneinanderreihung von unerklärlichen und willkürlichen Ereignisse, die den Verlauf und die Dauer einer menschlichen Existenz bestimmten.
Céline dachte an LaBréa, der sich draußen vor der Bank befand. Dass er Angst um sie hatte und in Gedanken ständig bei ihr war, spürte sie. In wenigen Minuten würde sie als Geisel dieses wahnsinnigen Mörders die Bank verlassen. Sie würde keine Angst zeigen, keine Schwäche. Sondern sich bemühen, die Situation ein Stück weit in den Griff zu bekommen. Vielleicht das Gespräch mit dem Mann suchen, sehen, wie er reagierte. Darin lag ihre einzige Chance.
Die kleine Ruhepause, die der Geiselnehmer ihr zugebilligt hatte, war
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