Der lange Schatten
hatte er vergessen können, was vor zehn Jahren in Marseille passiert war? Douvry war beschuldigt worden, eine minderjährige Anhalterin mitgenommen und in eine einsame Bucht in den Calanques entführt zu haben. Dort hatte er das Mädchen vergewaltigt, erwürgt und war anschließend mit der Leiche im Kofferraum auf die Klippen gefahren, wo er den Leichnam ins Meer warf. Die Beweise waren eindeutig, DNA-Spuren des Mädchens fanden sich im Kofferraum und auf dem Beifahrersitz. Kein Alibi des Beschuldigten. Der Mann bekam lebenslänglich. Douvrys Frau Nicole und sein damals zwölfjähriger Sohn Frédéric hielten eisern zu ihm. Nach der Urteilsverkündung hatte der Sohn LaBréa auf dem Gerichtsflur abgepasst. Mit hassverzerrtem Gesicht war er auf ihn zugestürzt und hatte ihm ins Gesicht geschrien: »Mein Vater ist unschuldig! Alles, was Sie behauptet haben, ist gelogen! Sie Drecksack! Jetzt müssen wir aus unserer Wohnung raus, weil wir kein Geld haben. Das vergesse ich Ihnen nie, das verspreche ich! Ich hasse Sie!«
LaBréa lehnte sich im Sessel zurück und runzelte die Stirn. Müsste schon was Wichtiges sein, hatte Franck vorhin im Büro gemeint. Frédéric Douvry … Ich hasse Sie … das vergesse ich Ihnen nie … Nun, das war etwas Wichtiges, vielleicht eine heiße Spur. Der Junge wäre heute einundzwanzig Jahre alt. Kinder von überführten Mördern gerieten oft auf die schiefe Bahn. Die Verurteilung des Ernährers der Familie hatte Mutter und Sohn damals ohne Zweifel in tiefe finanzielle Nöte gestürzt. Da konnte ein junger Mann schon mal eine kriminelle Laufbahn einschlagen. Einbrüche, Banküberfälle … und schließlich Mord. In der LCL-Bank hatte der Täter zwei Menschen erschossen. Mit Céline konnte das Gleiche geschehen, wenn sie nicht rechtzeitig befreit wurde.
LaBréa erhob sich aus dem Sessel, ging zum Telefon und wählte Jean-Marcs Nummer. Er nannte ihm das Aktenzeichen des Falles und bat um eine schnelle Recherche nach Frédéric Douvry.
»Wo lebt er heute, was macht er beruflich und so weiter. Das Übliche, Jean-Marc.«
»Glauben Sie, dass er der Kerl ist?«
»Auf jeden Fall hat er mir damals indirekt gedroht. Ich hab das seinerzeit nicht ernst genommen und deshalb auch tatsächlich vergessen.«
Im Anschluss an das Gespräch blätterte LaBréa die restlichen Unterlagen durch. Es kamen noch drei weitere Mordfälle in Marseille hinzu sowie die Kapitalverbrechen nach seinem Dienstantritt in Paris. Doch nirgendwo fand sich ein Anhaltspunkt, der auch nur annähernd so vielversprechend schien wie der Racheschwur eines zwölfjährigen Jungen, Sohn eines überführten und verurteilten Mörders.
16. KAPITEL
Wieso bist du eigentlich so hart zu ihm?«, sagte Françoise Thibon zu ihrem Mann und tupfte sich mit der Serviette die stark geschminkten Lippen ab. »Man kann sich doch vorstellen, wie ihm zumute ist! Seine Lebensgefährtin befindet sich in der Gewalt eines unberechenbaren Geiselnehmers. Versetz dich mal an seine Stelle, Roland. Wie würdest du reagieren, wenn ich in so eine Geschichte hineingeraten wäre?«
Tja, wie reagiert man, wenn einem die Ehepartnerin gleichgültig geworden ist? Direktor Thibon warf seiner Frau einen kurzen Blick zu und beugte sich ein wenig vor.
»Nicht ganz so laut, chérie «, sagte er mit gedämpfter Stimme und blickte rasch zum Nachbartisch. »Wir sind hier nicht allein!«
Sie saßen im Restaurant de la Bourse , einem ihrer Lieblingslokale. Françoise Lavallé, verheiratete Thibon, war Schauspielerin an der Comédie Française. Am heutigen Mittwoch fiel überraschend die Vorstellung aus, da der Hauptdarsteller des Stücks, in dem sie spielte, erkrankt war. Spontan hatte sie sich mit ihrem Mann zum Essen verabredet. Dem Direktor war das gar nicht recht gewesen, hatte er doch an diesem Abend seine junge Geliebte Eliane besuchen wollen. Seit zwei Jahren hatte er ein Verhältnis mit ihr, von dem seine Frau nichts wusste. Jedenfalls nahm Roland Thibon das an, da sie nie eine diesbezügliche Anspielung fallen ließ. Er finanzierte Eliane, die an drei Abenden in der Woche als Tänzerin in einem noblen Nachtclub arbeitete, das kleine Appartment im 1. Arrondissement, unweit seines Büros am Quai des Orfèvres. Eine praktische Adresse, konnte er Eliane so doch auch in der Mittagspause besuchen und sich von ihr verwöhnen lassen. Heute war Elianes freier Tag im Nachtclub; umso ärgerlicher, dass die Theatervorstellung seiner Frau ausfiel und Thibon schnell
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