Der lange Schatten
gehastet. Seine spärlichen Haare klebten ihm nass am Kopf, von seiner schlabbrigen Fleecejacke perlte der Regen.
»’n Abend, Commissaire! So ein Sauwetter!«
»Ja, allerdings«, murmelte LaBréa und ging eilig weiter. Monsieur Hugo hüstelte, erstaunt, dass der Commissaire so kurz angebunden war, und ließ die Flurtür hinter sich ins Schloss fallen.
LaBréa warf einen schnellen Blick zu Célines Atelierwohnung hinüber. Sie lag rechter Hand über den Hof, an dessen Ende sich LaBréas Wohnung befand. Die Fenster waren dunkel, der Nieselregen schlug gegen die Scheiben. LaBréa hätte vor Verzweiflung am liebsten geschrien. Wo war Céline jetzt? Was hatte der Geiselnehmer mit ihr gemacht? Hastig eilte er weiter, als ginge von Célines Wohnung eine Gefahr aus, der er unbedingt entfliehen musste. Noch am Vormittag hatten Jenny und er Céline in ihrer Wohnung abgeholt, um mit der Métro zum Musée d’Orsay zu fahren. Unendlich lange schien das her. Der Tag hatte sich zu einem wahren Albtraum entwickelt.
Im Flur hängte er seinen Trenchcoat an den Garderobenhaken und schlurfte in die Küche. Als er auf dem Weg dorthin den Salon durchquerte, empfing ihn Kater Obelix mit lautem Miauen. Er schrie vor Hunger, denn LaBréa hatte ihn völlig vergessen. LaBréa strich dem Tier kurz übers Fell, doch Obelix entzog sich, zischte böse und erreichte vor ihm die Küche. LaBréa nahm aus dem Küchenschrank eine angebrochene Dose Katzenfutter und gab den Inhalt in den Napf, der neben der Balkontür stand. Sogleich machte sich Obelix darüber her. Für sich selbst wählte LaBréa ein Stück kaltes Huhn, das vom gestrigen Abendessen übrig geblieben war. Hastig aß er es direkt aus der Alufolie. Er suchte nach der Whiskyflasche. Sie lag seit Monaten unberührt im Küchenschrank, ein Geburtstagsgeschenk von seinem Bruder Richard. Normalerweise trank LaBréa keine scharfen Sachen. Doch angesichts der Stresssituation, in der er sich seit Stunden befand, schien ihm ein Schluck Whisky genau das Richtige. Er machte ein großes Glas halb voll und kippte es in einem Zug hinunter. Schon fühlte er sich besser, obgleich der Whisky wie Feuer in seinem Magen brannte. Er schob sich den letzten Bissen Huhn in den Mund und wusch sich rasch die Hände unter dem Wasserhahn der Küchenspüle. Dann ging er hinüber in den Salon, wo die schmatzenden Fresslaute des Katers nicht mehr zu hören waren.
Aus einem Sideboard holte er einen Aktenordner, setzte sich in einen der Sessel und begann, die kopierten Ermittlungsunterlagen der letzten Jahre durchzublättern. Er begann mit dem Mordfall Roulin. Vor zehn Jahren hatte der dreißigjährige Fabrice Roulin in Marseille seine Eltern und seine jüngere Schwester umgebracht. Geschickt hatte er zunächst versucht, den Verdacht auf einen Nachbarn zu lenken. Doch anhand einer lückenlosen Indizienkette konnte LaBréa ihn seinerzeit als Täter überführen. Fabrice Roulin saß eine lebenslange Haftstrafe ab. Unwahrscheinlich, dass er vorzeitig entlassen worden war. Ganz abgesehen davon, dass er nicht mit südlichem Akzent sprach und zudem lispelte. Außerdem war er heute ein Mann von vierzig Jahren. Die befreiten Geiseln aus der LCL aber hatten den Geiselnehmer als jüngeren Mann beschrieben.
LaBréa blätterte weiter. Gruppenvergewaltigung an einem siebzehnjährigen Mädchen mit Todesfolge. Ein besonders grauenhaftes Verbrechen. Drei der sechs jugendlichen Täter konnten in einem Wohnsilo in einer Vorstadt von Marseille verhaftet werden, die beiden anderen wurden nie gefasst. Die drei Angeklagten bekamen jeweils fünf Jahre Jugendhaft. Eine lächerlich geringe Strafe angesichts des Verbrechens, das sie begangen hatten. Alle drei wären heute wieder auf freiem Fuß und im Alter des Geiselnehmers. War es möglich, dass einer von ihnen jetzt die Bank überfallen und sich an LaBréa erinnert hatte, als dieser sich am Handy meldete?
Beim nächsten Fall handelte es sich um Schutzgelderpressung und Mord an einem Marseiller Geschäftsmann. Die Täter, zwei illegal in Frankreich lebende Ivorer, verbüßten eine lebenslängliche Strafe und würden anschließend in ihre Heimat abgeschoben werden.
Es folgte ein Fall von Giftmord, begangen von einer alten Frau an ihrem achtzigjährigen Ehemann. Noch vor Antritt der Strafe war die Frau verstorben. Hier hatte niemand mit LaBréa eine Rechnung offen.
Und dann zuckten LaBréas Augen wie elektrisiert zu den Unterlagen im Fall Philippe Douvry, Versicherungsvertreter. Wie
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