Der lange Schatten
umdisponieren musste. Die Ausrede, heute Abend einen dringenden Termin beim Polizeipräfekten wahrnehmen zu müssen, wäre nicht glaubhaft gewesen. Er hatte sie seiner Frau bereits am Montag aufgetischt.
Thibon trank einen Schluck Wein und stocherte lustlos in seinem Essen herum. Während Françoise mit großem Appetit in ihr Steak biss, schob ihr Mann sein Risotto mit Steinpilzen beiseite. Erneut knüpfte Françoise an das Gespräch an.
»Ich finde, du solltest LaBréa anrufen und ihm signalisieren, dass du Verständnis für seine Situation aufbringst. Es ist doch völlig überzogen, wenn du ihm wegen dieser fingierten Krankmeldung an den Kragen gehst. Zeig dich großherzig, damit der Frieden in deiner Abteilung wiederhergestellt ist.«
Thibon seufzte. »Den Frieden in meiner Abteilung stört er , niemand sonst, Françoise. Ich weiß nicht, welches schlechte Karma mich heimgesucht hat, als LaBréa letztes Jahr ausgerechnet in meine Abteilung versetzt wurde! Das Schicksal kann uns nur nehmen, was es uns gegeben hat. Altes französisches Sprichwort. Aber ich werde dem Schicksal ein wenig nachhelfen.«
»Ich finde wirklich, du übertreibst, Roland! Vergiss bitte nicht, dass er sich im Sommer sehr fair zu uns verhalten hat. Ich meine, als diese ganze Clique um Ribanville und Lecadre aufgeflogen ist. Er hat es nicht an die große Glocke gehängt, dass wir so eng mit Lecadre befreundet waren. Mit einem Mörder und Kinderschänder!« Voller Abscheu schüttelte sie sich und griff hastig nach ihrem Weinglas. »Natürlich waren wir völlig ahnungslos! Aber dennoch – nicht auszudenken, was das für deine Karriere bedeutet hätte. Und für meine auch!«
»Ich fühle mich nicht in seiner Schuld. In dienstlichen Dingen handelt LaBréa fortwährend eigenmächtig, geradezu selbstherrlich. Er scheint nicht begriffen zu haben, dass es im Polizeiapparat eine Hierarchie und eine Befehlskette gibt.«
»Jetzt sei doch nicht so stur! Ein bisschen mehr Menschlichkeit und Einfühlungsvermögen – das wünsche ich mir von dir.« Sie blickte ihm direkt in die Augen. Er hatte Mühe, ihrem Blick standzuhalten.
Weiß sie etwas? Soll das eine Anspielung sein?, fragte er sich. Sie lächelte ihn an und schob sich den letzten Bissen Fleisch in den Mund. Nachdenklich wog Roland sein Glas in der Hand. Seit zwanzig Jahren war er mit Françoise verheiratet. Aus einer mittellosen Familie stammend, hatte er seinerzeit das große Los gezogen, als er die verwöhnte Tochter eines wohlhabenden Pariser Rechtsanwalts für sich gewann. Schon damals glänzte sie als junger Star im Théâtre du Vieux-Colombier. Eine gefeierte Schauspielerin, von Männern umschwärmt. Bis heute war ihr Mädchenname Lavallé auch ihr Künstlername. Als Referendar in der Kanzlei ihres Vaters hatte er sie kennengelernt. Sein zukünftiger Schwiegervater, Edouard Lavallé, hielt große Stücke auf Roland. Er ebnete ihm den Weg in die konservative Partei, wo er bald die richtigen Verbindungen knüpfte. Als Jurist hatte er die besten Voraussetzungen für den höheren Polizeidienst. Auch da hatte Françoise’ Vater seine Hände im Spiel, und Roland Thibon kletterte rasch und stetig die Karriereleiter empor.
Er wusste, dass er Françoise viel verdankte, eigentlich alles. Ihre Familie hatte ihn aufgenommen und protegiert. Einzig die Tatsache, dass Françoise keine Kinder bekommen konnte, war von Beginn an ein Wermutstropfen für ihre Eltern gewesen. Sie hätten gern Enkelkinder gehabt. Roland selbst machte sich nichts aus Kindern. Er hatte sich keine gewünscht und war im Grunde froh, dass die Natur bei seiner Frau einen Riegel vorgeschoben hatte. Vor einigen Jahren hatte Thibon kurzzeitig über eine Scheidung nachgedacht. Er liebte Françoise nicht mehr. Hatte er sie überhaupt je geliebt? Natürlich, in den ersten Jahren war er sehr verliebt gewesen. Verstärkt wurde dieses Gefühl noch durch die Möglichkeiten, die sie und ihre Familie ihm eröffnen konnten. Doch so wie alles sich abnutzte, verloren auch Liebe und Verliebtheit ihr Feuer und glimmten nach nicht allzu langer Zeit nur noch träge vor sich hin. Françoise war nur zwei Jahre jünger als er. Mit zunehmendem Alter klammerte sie sich immer heftiger an ihre Jugend, die längst vorbei war. Mit aller Macht stemmte sie sich gegen das Unausweichliche. Kleine und große Schönheitsoperationen verschlangen riesige Summen Geld, der Effekt war nur vorübergehend. Thibon bekam Appetit auf junge, unverbrauchte und nicht
Weitere Kostenlose Bücher