Der lange Schatten
Schwein, du verdammtes Dreckschwein!«, schrie sie laut. Es war ihr egal, ob der Mann ihre Worte im Weggehen hörte. »Ich will hier raus, ich will endlich raus! Lass mich raus, du Schwein!« Immer wieder wiederholte sie diese Sätze, bis ihr Schreien in ein mattes Schluchzen überging und ihre Arme sich schützend um ihren Bauch legten. Dann beruhigte sie sich. Sie erinnerte sich an den Traum von vorhin. Es war nur ein Traum, dachte sie. Eine Angstfantasie, geboren aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. LaBréa ließ sie nicht im Stich. Im Gegenteil, er würde sie finden! Er würde sich auf die Suche nach ihr begeben und sie befreien. Eine andere Möglichkeit war undenkbar. Ebenso undenkbar wie die Vorstellung, ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes auf solch erbärmliche Weise zu beenden.
Plötzlich musste sie an ihre Arbeit denken. Seit dem Banküberfall hatte sie kein einziges Mal daran gedacht, dass sie Malerin war. Eine Frau, die kreativ arbeitete und mit ihrer Arbeit Erfolg hatte. Vor wenigen Tagen erst war ihr die Idee zu einem neuen Bilderzyklus gekommen: Lichter der Stadt. Morgen hatte sie ursprünglich die ersten Leinwände grundieren wollen, um dann mit den Skizzen zu beginnen. Jetzt schien dieses Projekt in weite Ferne gerückt. Selbst wenn sie diese schreckliche Situation unversehrt überstehen sollte, erschien es ihr unvorstellbar, schon bald wieder Farben zu mischen und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Traumatische Erlebnisse brauchten Wochen, wenn nicht Jahre, um verarbeitet zu werden.
Céline erhob sich von der Matratze. Erst jetzt wurde ihr klar, dass der Geiselnehmer vergessen hatte, die Lampe zu löschen. Die Nacht war noch lang, und wer konnte wissen, was noch alles geschehen würde. Wie viel Gas befand sich in so einer Kartusche? Besser, man ging sparsam damit um. Céline blies die Flamme aus und tastete sich zurück zum Matratzenlager. Wie die Duftmarke des Todes hing der strenge Knoblauchgeruch in der stickigen Enge des Bauwagens.
Die Stadt schlief nie. Auch in einer kalten und regnerischen Oktobernacht wie dieser waren Menschen auf den Straßen unterwegs. Autos fuhren über die Boulevards, und das Wasser unter ihren Reifen spritzte auf die Bürgersteige. In den hell erleuchteten Restaurants und Bistros saßen Gäste hinter beschlagenen Scheiben. Wie immer in Paris wurde spät zu Abend gegessen. Nur in den kleinen Nebenstraßen stand das Leben still. Hin und wieder führte ein Hundebesitzer eilig sein Tier Gassi, darauf bedacht, bald wieder im Trockenen zu sein.
Den Kragen des Parkas hochgeschlagen, die Baseballmütze tief ins Gesicht gezogen, durchquerte LaBréa die Straßen seines Viertels. Ein böiger Wind trieb den Regen von allen Seiten herbei. Mit hastigen Schritten ging LaBréa zur Métrostation St. Paul und bestieg dort die Linie 1. An der Haltestelle Hôtel de Ville stieg er um in die Linie 11 und fuhr in nordöstlicher Richtung bis zur Endstation Mairie des Lilas. Hier hatte er sich mit Jean-Marc verabredet.
Auch jetzt, um zweiundzwanzig Uhr, waren noch viele Menschen mit der Métro unterwegs. Sie kamen spät von der Arbeit und steuerten auf ihr Zuhause in den Außenbezirken zu. LaBréa blickte in müde, gleichgültige Gesichter, junge und alte, ein Gemisch aus allen Hautfarben. Regen perlte von der Kleidung der Fahrgäste, von zusammengeklappten Regenschirmen tropfte das Wasser.
LaBréa fühlte sich ausgelaugt. Noch nicht einmal zwölf Stunden waren seit der Geiselnahme in der Bank vergangen, und doch schien es eine Ewigkeit her. Die Ereignisse hatten sich überstürzt, und die Nacht war noch lange nicht zu Ende. Ein Wettlauf mit der Zeit – wer würde ihn gewinnen? Was würde geschehen, wenn der Morgen anbrach, ohne dass das Lösegeld aufgetrieben worden war? Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder es gelang ihm, die Übergabe des Geldes hinauszuzögern, oder er konnte dem Geiselnehmer noch in dieser Nacht das Handwerk legen. Wie beim Schach war die Partie eröffnet. Eine tödliche Partie, bei der es darum ging, die Dame vor dem gegnerischen Angriff zu retten. Wenn sie nicht bereits schachmatt gesetzt war … LaBréa zwang sich, diesen Gedanken beiseitezuschieben. Einen geliebten Menschen in Todesgefahr zu wissen war das Schrecklichste, das LaBréa sich vorstellen konnte. Er hatte das im letzten Jahr bereits einmal durchgemacht, als Jenny sich in der Gewalt des Bastillemörders befand.
Der Zug fuhr mit hohem Tempo. Er bestand aus neueren Waggons, deren
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