Der lange Schatten
Räumlichkeit gefangen, klangen ihre Rufe dumpf und wurden von den Wänden blockiert. Céline begriff bald, dass niemand sie hören würde. Wer war auch schon in einer solchen Regennacht auf diesem einsamen Gelände unterwegs? Vielleicht jemand, der seinen Hund ausführte? Doch diese Hoffnung blieb vergeblich, und darüber stürzte Céline in tiefe Verzweiflung. Ihre Lage schien aussichtslos, ihr Schicksal ungewiss. Oder vielmehr nur allzu gewiss, weil der Mann sie töten würde, ganz gleich, ob er das Lösegeld bekam oder nicht. Sie dachte an ihr Baby. Sie durfte nicht sterben, sondern musste aus dem tiefen Loch aus Angst und Verzweiflung herauskriechen. Kraft schöpfen, sich zur Ruhe zwingen. Die Ausdünstungen der Matratze, auf der sie sich zusammenrollte, störten sie jetzt nicht mehr. Sie fühlte sich selbst schmutzig und verschwitzt. Sie hätte sich gern die Hände gewaschen und ihr Gesicht mit Wasser erfrischt. Der Kanister stand auf dem Tisch. Doch wohin mit dem Abwasser? Seit geraumer Zeit verspürte sie wieder brennenden Durst. Doch sie verkniff sich einen Schluck aus dem Wasserkanister. Sie war froh, dass sie keinen Harndrang verspürte, und hoffte, dass es noch eine Weile so blieb.
Im Schlaf suchten wirre Traumsplitter sie heim. Sie rannte durch fremde Häuser, wartete an einem Bahnsteig auf einen Zug, der nicht kam. Auf einem Feldweg, der rechts und links von tiefen Wassergräben gesäumt war, kam ihr LaBréa entgegen. Er sah anders aus als in Wirklichkeit. Wie wild winkte sie ihm zu und wollte etwas rufen. Doch die Stimme versagte ihr, kein Laut entwich ihrer Kehle. Kaum lachte LaBréa sie an, entfernte er sich plötzlich. So schnell Céline auch auf ihn zulief, seine Gestalt wurde immer kleiner und verschwand bald wieder am Horizont. Mit einem Ruck schreckte Céline schweißgebadet hoch. Ein Geräusch an der Tür holte sie in die Wirklichkeit zurück und tauschte einen Albtraum gegen den anderen aus.
Gleich darauf betrat ihr Peiniger wieder den Bauwagen. Er leuchtete mit der Taschenlampe herum und entdeckte Céline auf der Matratze. Sie stand sofort auf und strich sich Hose und Jacke glatt. Der Geiselnehmer zündete die Gaslampe an und musterte Céline von oben bis unten. Sein Blick im Halbdunkel schien ebenso unergründlich wie gefährlich. Mit zwei Schritten war er bei ihr. Ein starker Knoblauchgeruch strömte von ihm aus. Eine Welle von Panik ergriff Céline. Jetzt ist es so weit, dachte sie. Jetzt stürzt er sich auf dich, und du kannst nichts dagegen tun. Rasch drückte sie sich an die Wand und ballte die Hände zu Fäusten. Sie würde sich wehren. Kampflos würde er sie nicht auf die Matratze zwingen.
Doch er hatte gar kein Interesse daran. Er beugte sich ans Fußende der Lagerstatt und wühlte zwischen den dort liegenden Kleidern herum. Dann fand er, was er suchte. Er ging zum Tisch, ließ sich auf den Stuhl fallen.
»Los, komm her! Dein Bulle will einen Beweis, dass du noch am Leben bist. Den liefern wir ihm.«
Erleichtert, dass es nicht zu dem befürchteten Übergriff gekommen war, setzte Céline sich an den Tisch und fragte rasch: »Hat der Commissaire schon gesagt, ob das Lösegeld bereitgestellt wird?«
»Der Commissaire!«, äffte er sie nach. »Tu doch nicht so förmlich! Das nützt dir jetzt sowieso nichts mehr.«
Was heißt das?, überlegte Céline fieberhaft. Hatte er sich verplappert und damit seine wahren Absichten verraten? Waren die Würfel schon längst gefallen, und sie klammerte sich an einen Funken Hoffnung? Welches perfide Spiel spielte dieser Mann mit ihr? Laut sagte sie: »Ich will nur wissen, auf was ich mich einstellen muss, Monsieur.«
Erneut grinste er.
»Auf alles, du Schlampe. Einfach auf alles. Damit liegst du auf keinen Fall schief!«
Als Céline sah, was er unter dem Klamottenhaufen herausgekramt hatte, ahnte sie, was der Mann vorhatte.
Wenig später schnappte er sich seinen Rucksack und drehte sich zur Tür. Nur mit Mühe beherrschte sich Céline, um nicht voller Wut auf ihn einzuschlagen. Ihr Hass war stärker als je zuvor. Doch sie wusste, dass sie keine Chance hatte. Sie durfte nicht die Nerven verlieren, sondern musste sich und ihr Kind schützen. Auch wenn es am Ende vielleicht umsonst war.
Sekunden später hatte der Mann den Bauwagen wieder verlassen. Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Céline warf sich auf die Matratze und trommelte wie von Sinnen mit den Fäusten darauf ein. Tränen der Wut und Ohnmacht liefen über ihre Wangen.
»Du
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