Der lange Schatten
meine Vermutung, dass es ein Muster gibt, bestätigen. Sagen Sie: Gibt es eine Möglichkeit, rauszufinden, wie viele öffentliche Fernsprecher sich an den einzelnen Haltepunkten der Linie 11 befinden?«
»Die gibt es sicher, aber das könnte eine Weile dauern.«
»So viel Zeit haben wir nicht.«
»Wo treffe ich Sie, Chef?«
LaBréa nannte ihm eine Métrostation.
18. KAPITEL
Er fühlte sich stark. Sein Adrenalinspiegel hatte den höchsten Pegelstand erreicht. Die letzte Dosis hatte innerhalb einer halben Stunde ihre volle Wirkung entfaltet. Sie würde einige Stunden vorhalten, mindestens bis Tagesanbruch. Bis dahin hatte er sich diesen LaBréa bei der Geldübergabe geschnappt und ihm vorher noch einen ordentlichen Denkzettel verpasst, um seiner Forderung nach dem Lösegeld auf spezielle Weise Nachdruck zu verleihen. Der Typ würde ihm aus der Hand fressen und alles tun, um seine Tussi zu retten. Sobald die Kohle in seinem Besitz war – und Freddy zweifelte keinen Augenblick daran, dass er sie bekommen würde –, hatte er genug in der Tasche, um sich im Labor des Abbruchhauses mit einem satten Vorrat feinster Qualität einzudecken. Dann würde er mit Hilfe diverser gestohlener Wagen über die spanische Grenze bis nach Portugal fahren. Dort konnte er sich neue Papiere besorgen, eine Schiffspassage buchen und irgendwo in Südamerika untertauchen. Zweihunderttausend Mäuse – damit kam man in solchen Ländern sehr weit.
Natürlich würde er die Tussi nicht mit dem Bullen sprechen lassen! Er war doch nicht blöd. Das ginge schließlich nur über sein Handy, und das konnte von den Bullen sofort geortet werden. Er hatte es seit dem frühen Morgen ausgeschaltet. Ein Wegwerfhandy mit einem Guthaben von sechzig Anrufen, für fünfundvierzig Euro im Supermarkt gekauft. Er hatte erst zweimal damit telefoniert.
Zu Fuß ging er im Regen durch die Rue du Faubourg du Temple bis zum Boulevard de Belleville. Dort kannte er eine Kneipe, Chez Marion & Pierre . Hier gab es die beste Bouillabaisse der Stadt. Marseiller Fischsuppe, mit viel scharfer Knoblauch-Rouille und knusprigen Croutons. Seit seiner Kindheit war ihm dieses Essen vertraut, und er hatte lange gesucht, bis er dieses Lokal in Paris entdeckte. Das Cassoulet am späten Nachmittag, das die Tussi im Bauwagen aufgewärmt hatte, war ein öder Fraß gewesen. Eine Notration, damit er bei Kräften blieb und die Nerven behielt.
Im Chez Marion & Pierre war der Laden gerammelt voll. Er fand einen Platz im hinteren Teil des Raumes, direkt neben dem Eingang zu den Toiletten. Dort roch es ziemlich streng. Doch als Marion, die dralle Wirtin mit den schwarz gefärbten Haaren und den falschen Wimpern, ihm die Fischsuppe servierte, überdeckte deren köstlicher Duft den Geruch nach Urin und Schlimmerem.
Langsam und voller Genuss aß er. Die Suppe war heiß, und er achtete darauf, dass er sich nicht den Mund verbrannte. Hin und wieder blickte er auf seine billige Taucheruhr. Er hatte einen Plan. Bevor er diesen Bullen um Mitternacht anrief, wollte er auf einen Sprung zurück in den Bauwagen. Die Tussi kam inzwischen sicher um vor Todesangst. Sie war ihm mit Haut und Haaren ausgeliefert. Dieser Gedanke verpasste ihm einen weiteren Adrenalinstoß und löste ein tiefes Gefühl der Befriedigung in ihm aus. Macht über Menschen ausüben, ihnen seinen Willen aufzwingen, das hatte ihn schon immer fasziniert. Bisher war der Tag super gelaufen. Trotz der kleinen Pannen in der Bank saß er weiterhin unangefochten am Drücker. Der Bulle würde nach seiner Pfeife tanzen, und das Versteck für die Tussi war todsicher, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes.
Kurz vor zehn schlenderte er zum Tresen und bezahlte sein Essen. Die Wirtin legte die Zeitung beiseite. Als er das Wechselgeld einsteckte, fiel sein Blick auf die Schlagzeile des Blattes. Neue Randale in den Vorstädten – Polizei machtlos stand da. Er verzog seine Lippen zu einem Lächeln. Nicht nur in den Vorstädten hatte die Polizei jegliche Kontrolle verloren.
Céline war auf der alten Matratze eingenickt und in einen unruhigen Schlaf gefallen. Seit der Geiselnehmer erneut den Bauwagen verlassen hatte, dachte sie fieberhaft darüber nach, wie sie sich befreien konnte. Die Fenster waren von außen vernagelt – hier gab es kein Entrinnen. Die Eisentür bewegte sich nicht, sosehr Céline auch daran rüttelte. Einige Male hämmerte sie mit aller Kraft dagegen und schrie um Hilfe. Als wäre ihre Stimme so wie sie selbst in der engen
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