Der lange Schatten
Cyril.
»Ja, hab ich. Aber da gibt’s ein paar Haken.«
»Zum Beispiel?«
»Sie ist ziemlich dunkel. Und irgendwie riecht sie komisch. Als ob Feuchtigkeit in den Wänden steckt. Na ja, kein Wunder: Die Concierge hat mir gesagt, dass das Dach schon seit Jahren undicht ist und dringend erneuert werden müsste.«
»Also Fehlanzeige, oder?«
»Würde ich schon sagen. Wir suchen weiter, Jean-Marc. Irgendwann finden wir schon das Richtige. – Wie lange hast du noch zu tun?«
»Nicht mehr lange. In einer Viertelstunde ist Feierabend, dann komm ich zu dir. Ich warte nur noch …«
In dem Moment läutete sein Festnetztelefon.
»Ich muss Schluss machen. Ein dringender Anruf.« Er drückte das Handygespräch weg und griff nach dem Festnetzhörer.
»Leutnant Lagarde.«
Eine weibliche Stimme meldete sich.
»Brigadier Sylvestre, Gendarmerieposten Grenoble. Ich bin jetzt in der Rue des Abeilles Nummer 21. Dieser Frédéric Douvry wohnt da nicht mehr. Ein Hausbewohner hat mir gerade erzählt, dass er vor einigen Wochen ausgezogen ist.«
»Wusste er, wohin?«, warf Jean-Marc rasch ein.
»Nein. Douvry hatte die Wohnung möbliert gemietet und war dann von einem Tag auf den anderen weg. Kontakte zu den Nachbarn hatte er nicht. Der lebte für sich.«
»Beruf, Freundin, irgendwas Greifbares?«
»Leider nicht.«
»Wie sieht der Mann aus? Konnte der Nachbar ihn beschreiben?«
»Er ist groß, sportlich, dunkle Haare. Keine besonderen Kennzeichen.«
»Danke, Brigadier. Sie haben uns sehr geholfen!«
Gleich darauf wählte Jean-Marc LaBréas Nummer. »Chef? Die Spur von Frédéric Douvry verliert sich in Grenoble. Da war er eine Zeit lang gemeldet.« Er gab die Einzelheiten durch. »Gut möglich, dass er wirklich der Junge von damals ist«, meinte Jean-Marc zum Schluss. »Vielleicht ist er nach Paris gezogen.«
Er hörte, wie LaBréa am anderen Ende der Leitung seufzte.
»Ich weiß nicht, Jean-Marc.« LaBréas Stimme klang belegt. »Das passt alles etwas zu gut. Frédéric Douvry schwört mir als Junge Rache, zehn Jahre später verschwindet er aus Grenoble. Der Geiselnehmer hier in Paris gibt vor, mich zu kennen … Woher weiß ich eigentlich, ob er mich wirklich kennt? Vielleicht hat er nur mal meinen Namen gehört und hat sich ein perfides Spiel ausgedacht!«
»Stimmt, Chef. Möglich wär’s.«
»Kurz, wir sind genauso schlau wie zuvor. Frédéric Douvry ist bisher nicht straffällig geworden. Erstaunlich bei jemandem, der so eiskalt eine Bank überfällt, zwei Menschen erschießt und mit einer Geisel die Flucht antritt. So einer ist doch kein Anfänger! Der hat vorher schon andere Delikte begangen und mit der Polizei zu tun gehabt.«
»Ich finde nichts über ihn, Chef.«
»Weil der Geiselnehmer vielleicht doch jemand anders ist. Je mehr ich darüber nachdenke, desto skeptischer werde ich, was Douvry betrifft. Jedenfalls danke für Ihre schnelle Recherche. Machen Sie Feierabend, Jean-Marc.«
»Irgendwas Neues, Chef?«
»Nichts. Ich bin jetzt in der Stadt unterwegs und warte auf den nächsten Anruf. Woher das Lösegeld kommen soll, weiß ich bisher nicht. Leconte ist eine absolute Null. Der schafft es nicht mal, dass die LCL-Bank das Lösegeld übernimmt!«
»Dabei hat diese Bank Geld wie Heu«, warf Jean-Marc ein. »Die leisten sich sogar das Hauptsponsoring bei der Tour de France.«
»Tja. Wenn ich Leconte wäre, hätte ich den Mann schon längst aus dem Bett geklingelt!«
»Warum tun Sie’s nicht, Chef?«
LaBréa lachte gequält auf. »Weil ich keine dienstliche Befugnis dazu habe, und weil ich persönlich in diese Geiselnahme involviert bin. Der Bankdirektor würde mir die Tür gleich wieder vor der Nase zuschlagen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich selbst auf die Suche nach dem Versteck zu machen, wo dieses Schwein meine Freundin festhält.« Es kam selten vor, dass LaBréa seinen Mitarbeitern gegenüber Kraftausdrücke benutzte. Doch heute konnte er sich nicht beherrschen.
»Auf eigene Faust? Ohne Lecontes Wissen – und ohne Verstärkung?« Jean-Marc klang skeptisch.
»Freiwillige Helfer sind willkommen, Jean-Marc.«
»Okay! Das nehme ich wörtlich! Sagen Sie mir, wo Sie sind.«
LaBréa seufzte. »Das mit der Verstärkung hab ich nicht ernst gemeint.«
»Aber ich meine es ernst, Chef. Also, wo finde ich Sie?«
»Ich checke die Gegend entlang der Métrolinie 11. Wenn ich richtigliege, ruft er um Mitternacht vielleicht wieder von einem der öffentlichen Fernsprecher dort an. Das würde
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