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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra von Grote
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Rücken und erstickte kurzzeitig den ziehenden Schmerz an ihren Handgelenken. Seine dunklen, völlig ausdruckslosen Augen musterten sie wie eine Beute, mit der man noch eine Weile spielt, bevor man sie tötet.
    Ohne die Lampe zu löschen, verließ er mit seinem Rucksack über der Schulter den Bauwagen. Diesmal schloss er nicht ab. Angestrengt lauschte Céline, ob er sich entfernte. Sie hörte das Knirschen seiner Schritte, es klang, als umrundete er den Bauwagen. Das Rauschen des Blutes in ihren Ohren wurde so stark, dass sie die Außengeräusche kaum mehr wahrnahm. Sie zwang sich, gleichmäßig und ruhig durch die Nase zu atmen und den Gestank des Knebels zu ignorieren. Fieberhaft dachte sie nach, und ihr Kopf entwarf tausend schreckliche Szenarien. Angst und Panik brachten sie an den Rand der Ohnmacht.
    Plötzlich wurde die Klinke heruntergedrückt, und er kam wieder herein. Mit einem Knall ließ er die Tür zufallen und sperrte von innen ab. Er blieb einen Moment stehen, dann ging er mit schweren Schritten zum Matratzenlager. Als sie einen Blick auf sein Gesicht erhaschte, durchfuhr sie ein neuer eisiger Schauer der Furcht. Eine Furcht, die schlimmer war als alles, was sie bisher durchlitten hatte. Das Grauen, das dieser Mann in sich trug, würde ihr Schicksal besiegeln. Céline wusste, dass ihr jetzt das Schlimmste bevorstand und dass am Ende ihrer Qual der Tod wartete. Voller Panik zog sie die Beine an und drückte ihren Körper gegen die Wand. Doch es gab kein Entrinnen. Das Gesicht ihres Peinigers, hinter dieser neuen Maske des Bösen, war jetzt ganz nah. Er hockte sich neben sie auf die Matratze. Sein Anblick war so entsetzlich, dass Céline die Augen schloss. Doch einem inneren Zwang folgend, als müsste sie sich vergewissern, was sie sah, öffnete sie sie kurz darauf wieder. Es war ein Albtraum, grässlicher, als sie ihn sich je hätte ausmalen können. Ein Horrorszenario, unwirklich und doch von brutaler Realität. So also wird es ablaufen, dachte sie voller Panik und Verzweiflung. Sie bekam kaum noch Luft. Schweißperlen liefen ihr über die Stirn, und ihr Herz raste.
    Reglos saß er neben ihr und betrachtete sie. Eine Weile geschah nichts. Er wartete einfach und schien das Warten zu genießen.
    Dann, nach einiger Zeit, erhob er sich.
    Kurz bevor LaBréa in die Rue de L’Orme abbiegen musste, klingelte sein Handy. Es war nicht der Geiselnehmer, der anrief, sondern erneut Gilles von der Spurensicherung.
    »Die Dinge spitzen sich zu, Commissaire.«
    »Inwiefern?«
    »Die Datenbanken sind wieder zugänglich. Wir haben die DNA des Geiselnehmers durchs Register laufen lassen.«
    »Und?«
    »Das, was ich Ihnen jetzt sage, wird Sie wahrscheinlich umhauen.«
    Als Gilles ihm erzählte, um was es sich handelte, drosselte LaBréa das Tempo und brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen. Atemlos hörte er zu, was der Abgleich der DNA des Geiselnehmers mit den Daten im Zentralregister erbracht hatte. Das, was Gilles ihm berichtete, war so ungeheuerlich, dass LaBréa zunächst kein Wort hervorbrachte.
    »Sind Sie noch dran?«, wollte Gilles wissen.
    »Ja, bin ich. Sind Sie da ganz sicher?«
    »Hundertprozentig. Wir haben es mehrfach überprüft. Irrtum ausgeschlossen. Jetzt wissen Sie, mit wem Sie es zu tun haben.«
    Ja, das wusste er! Nie im Traum hätte er sich ausmalen können, wer sich hinter dem Mann, der Céline in seiner Gewalt hatte, tatsächlich verbarg. Die Spuren, die er in seiner verzweifelten Recherche verfolgt hatte, entpuppten sich damit auf einen Schlag allesamt als falsche Fährten. Die Lösung war viel naheliegender – man hätte nur darauf kommen müssen! Doch in diese Richtung hatte er nie gedacht. Im Nachhinein erschien ihm das völlig unverständlich. Alles griff ineinander, simpel und schnörkellos. Wieso hatte er das nicht früher gesehen? Offenbar weil es außerhalb seines Begriffsvermögens lag, dass die Vergangenheit ihn je auf diese Weise einholen würde.
    Wie ein langer Schatten, der sich unausweichlich genähert hatte und LaBréa nun zurückführte in die dunkelsten Stunden seines Lebens.
    Reglos saß er am Steuer seines Wagens. Der Motor lief, und auch die Zeit lief. Sie lief ab, wenn er zu spät kam. Wenige Hundert Meter weiter befand sich das verlassene Baugelände einer Firma und darauf möglicherweise ein alter Bauwagen, der als Célines Versteck genutzt wurde. Dort musste er hin!
    Ein nie gekannter Hass bemächtigte sich seiner, ein übermächtiger Wunsch nach Rache. LaBréas

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