Der lange Schatten
die nächtliche Stadt ins 20. Arrondissement.
23. KAPITEL
Den ganzen Tag lang hatte er kaum an ihn gedacht. Die Vorbereitungen zu dem Überfall in der LCL, die Ereignisse in der Bank selbst und die Geiselnahme der Bullentussi hatten ihn voll in Anspruch genommen und abgelenkt. Inzwischen kam es ihm fast so vor, als hätte seine letzte Begegnung mit Luc nie stattgefunden. Und doch lag sein alter Kumpel jetzt in seinem Rattenloch von Wohnung, mit einer Kugel in der Brust. Ob ihn wohl schon jemand gefunden hatte? Er bezweifelte das. Luc hatte keine Freunde, und niemand außer ihm hatte Luc je in diesem Hinterhof in der Rue Massillon besucht. Wer würde ihn vermissen? Nicht einmal er vermisste ihn, und sie beide kannten sich seit Jahren, hatten so manches Ding miteinander gedreht. Sie hatten einander vertraut, und ihre Freundschaft hätte noch Jahre überdauern können, wenn nicht … Als er jetzt darüber nachsann, schüttelte er unwillkürlich den Kopf. Am Abend zuvor hatte er mit Luc eine Tour durch die Kneipen am Boulevard de Clichy unternommen. Sie redeten von alten Zeiten, und er erzählte Luc von seinem Plan, am nächsten Tag die LCL-Bank zu überfallen. Luc war sofort Feuer und Flamme, faselte von der fetten Beute, die sie sich teilen würden. Doch so war das nicht gedacht. Er hatte nicht vor, Luc an der Sache zu beteiligen. Der Banküberfall war als Soloakt geplant und sollte seinen Absprung aus Paris einleiten, ihm ein neues Leben im Ausland ermöglichen. Warum war er so blöd gewesen, Luc überhaupt davon zu erzählen? Sie tranken viel in dieser Nacht, und sie snifften jede Menge Zeugs aus Yannicks Labor. Irgendwann landeten sie in Lucs Wohnung, obwohl er selbst die Nacht in dem Bauwagen hatte verbringen wollen, um sich in Ruhe auf den Banküberfall zu konzentrieren. Gegen sechs Uhr am nächsten Morgen, nach wenigen Stunden Schlaf, erwachte er neben Luc auf dessen Matratzenlager. Luc lag nicht mehr neben ihm. Vom anderen Ende des Raumes waren raschelnde Geräusche zu hören. Leise erhob er sich und sah, wie Luc neben dem Berg von Klamotten auf dem Boden hockte und seinen Rucksack durchsuchte. Luc entdeckte die Tüte mit dem Stoff, den er sich bei Yannick besorgt hatte. Seine zweite Tagesration, die er dringend benötigte, wenn die Sache in der Bank abgewickelt und er untergetaucht war. Nachdem er das Tütchen eingesteckt hatte, durchwühlte Luc weiter den Rucksack.
»Was suchst du denn sonst noch, Luc?«
Seine Stimme klang schneidend, und sein Kumpel zuckte zusammen. Freddy, der sich nie von seiner Glock trennte, auch nicht, wenn er sich schlafen legte, entsicherte die Waffe und richtete sie auf den Mann, der sein Freund war. Jedenfalls hatte er das bis zu diesem Augenblick geglaubt. Luc sagte nichts, starrte ihn nur an und erhob sich langsam. Den Rucksack ließ er auf den Boden gleiten.
Die beiden standen sich jetzt Auge in Auge gegenüber. Etwas Unausgesprochenes wuchs zwischen ihnen.
»Du beklaust mich also, Luc«, sagte Freddy nach einer Weile und fixierte ihn. »Und sicher nicht das erste Mal, oder? Für Typen wie dich gibt’s ’ne spezielle Bezeichnung: Kameradenschwein.«
So lange kannten sie sich nun schon, und er hatte Luc immer blind vertraut. Seinerzeit im Süden des Landes, als er als blutiger Anfänger neu einstieg und von Lucs Erfahrung profitierte. Obwohl nur ein Jahr älter als er, war Luc damals wie ein großer Bruder für ihn gewesen. Ein Vorbild, jemand, bei dem er das Handwerk erlernte. Und jetzt das. Hätte er Geld im Rucksack gehabt, Luc hätte es garantiert ebenfalls eingesteckt.
Er bemerkte die Furcht in Lucs Gesicht.
»Mach keinen Scheiß, Freddy!« Es klang jämmerlich, als flehte er um sein Leben. »Ich wollte doch nur …«
»Ist mir egal, was du wolltest«, unterbrach er Luc. »Tatsache ist, dass du in meinen Sachen rumwühlst und mir den Stoff geklaut hast.«
Luc lachte angestrengt.
»Den kannst du sofort wiederhaben. Hier!« Er zog das Tütchen aus seiner Hosentasche und hielt es ihm hin.
»Leg’s auf den Boden und schieb’s rüber zu mir.«
Er trat einen Schritt zurück. Die Pistole im Anschlag, ließ er Luc keine Sekunde aus den Augen. Sein Plan war längst gefasst. Es wurde Zeit, sich endgültig von seinem alten Leben zu verabschieden; auch von den Menschen, die in diesem Leben einen Platz eingenommen hatten. Keine Sentimentalitäten wegen der alten Zeiten. Die Zukunft hielt noch viel für ihn bereit, und Luc war ein Fossil von gestern. Mit einem starken
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