Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
geglaubt hatte, existierte nicht.
Was sie jetzt empfand, erschien ihr fast schlimmer als Joes Verlust. Sein Tod war schrecklich gewesen, aber real, und sie wusste, er hatte sie geliebt. Aber Steve bestahl und betrog sie – seit vielen Monaten. Sie fühlte sich elend, zutiefst gedemütigt und beschmutzt. Bei dem Gedanken an die Intimitäten, die sie geteilt hatten, wurde ihr übel. Wie eine Prostituierte kam sie sich vor – obwohl er es war, der sich prostituiert hatte.
Nach einer Weile legte sie die Papiere in das Schubfach zurück und versperrte es. Was sie Steve erklären und wie sie ihm entrinnen sollte, wusste sie nicht. Plötzlich fragte sie sich beklommen, ob Theodore ihn mit diesen Informationen konfrontiert hatte. War Steve womöglich über ihn hergefallen? Hatte dieser Angriff den Schlaganfall ausgelöst? Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Die Vermutung verdichtete sich fast zur Überzeugung.
Völlig durcheinander ging sie in ihr Zimmer, setzte sich aufs Bett und versuchte, ihre wirren Gedanken zu ordnen.
Als Steve hereinkam, musterte er sie verwundert. »Bist du okay?« Irgendwie sah sie verändert aus. Aber das war nach diesem aufregenden Tag verständlich. Er hatte angenommen, der alte Narr wäre völlig pleite gewesen. Und nun war Gabriella eine reiche Erbin. Mit diesem unverhofften Glücksfall hatte er nie gerechnet und geglaubt, er müsste sich weiterhin mit ihrem mageren Gehalt begnügen. Dass er über ihr Vermögen verfügen würde, bezweifelte er keine Sekunde lang.
»Ich habe nur Kopfschmerzen«, murmelte sie und erwiderte seinen Blick. Jetzt war er ein Fremder. Den Mann, den sie früher gekannt hatte, gab es nicht mehr.
»Mit deinen sechshunderttausend Dollar kannst du dir verdammt viel Aspirin kaufen, Schätzchen«, meinte er grinsend. »Wollen wir morgen Abend ganz groß ausgehen und unser Glück feiern? Und dann fliegen wir irgendwo hin – Paris – Rom – London ...« Nun musste er Gabbie gefügig machen, und dafür würde er in Europa die geeignete Umgebung finden.
»Darüber will ich jetzt nicht nachdenken. Außerdem kann ich Ian nicht von heute auf morgen im Stich lassen. Und der Professor hat mir das Geld vererbt, damit ich schreibe. Also darf ich's nicht einfach zum Fenster rauswerfen. Das wäre unfair.« Warum erklärte sie ihm das alles? Wieso vergeudete sie ihren Atem? Aber irgendwas musste sie sagen, um Zeit zu gewinnen, um in Ruhe zu überlegen, wie sie sich verhalten sollte. Bis sie einen Entschluss fasste, musste sie Steves Nähe ertragen. Allein schon sein Anblick war ihr zuwider – insbesondere, weil sie den Verdacht hegte, er hätte Theodores »Unfall« verschuldet.
»Was du mit dem Geld machst, wird der Professor nie erfahren.« Offenbar amüsierte er sich über ihre Gewissensbisse. »Jetzt gehört's dir.«
Da ihr keine passende Antwort einfiel, nickte sie nur. Immer deutlicher zeigte er sein wahres Gesicht. Wie üblich schlief er in ihrem Zimmer. Seines benutzte er nur mehr als Büro und Lagerraum. Sie wies erneut auf ihre Kopfschmerzen hin. Wenn er sie anrührte, würde sie ihn schlagen ... Was er ihr antat, erschien ihr genauso schlimm wie die Misshandlungen ihrer Mutter. Er bereitete ihr zwar keine körperlichen Qualen, aber der niederträchtige Betrug war genauso verwerflich.
Am Morgen gab sie vor, sie würde zur Arbeit gehen. Doch sie wollte ihm nur entfliehen. Von einer Telefonzelle aus rief sie Ian an und erklärte ihm, sie sei krank. Dann wanderte sie in den Park, setzte sich auf eine Bank und dachte nach. Steve wollte sich mit Freunden zum Lunch treffen. Beim Abschied hatte er noch einmal von der Europareise gesprochen, die ihm vorschwebte. Gabriella war nicht darauf eingegangen, hatte den Eindruck erweckt, sie müsste sich beeilen, und er schien keinen Verdacht zu schöpfen.
Auch Mrs Boslicki war an diesem Tag unterwegs. Einer der Mieter hatte mit seiner Zigarette ein Loch in seine Matratze gebrannt. Deshalb wollte sie eine neue kaufen. Mrs Rosenstein hatte einen Termin bei ihrem Arzt, und die meisten anderen Mitbewohner gingen zu Mittag in einem Lokal essen. Also konnte sie in Theodores Zimmer unbemerkt und ungestört nach weiterem Beweismaterial suchen, das sich gegen Steve verwenden ließe. Danach wollte sie den alten, erfahrenen Anwalt fragen, was sie tun sollte. Eins wusste sie schon jetzt – Steve musste möglichst bald aus ihrem Leben verschwinden. Er durfte keine einzige Nacht mehr mit ihr verbringen und sie nie mehr anfassen.
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