Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
zerstört und unwichtig. Der beste Teil seines Wesens existierte nicht mehr auf dieser Welt. Mit einer sanften Geste legte sie Theodores Hand auf seine Brust. »Grüß Joe von mir ...«, wisperte sie. Jetzt würden die beiden zusammen sein. Das spürte sie.
Langsam verließ sie die Intensivstation und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss hinab. Dann trat sie in den hellen Juli-Sonnenschein. Ein schöner Tag. Keine einzige Wolke am Himmel. Zahlreiche Leute stiegen die Eingangsstufen hinauf und hinunter, und es war seltsam, sie reden und lachen zu hören. Was ihr noch sonderbarer erschien – das Leben ging weiter, und die Welt hatte nicht einmal kurzfristig den Atem angehalten, um Theodores Abschied zu registrieren.
Das bleischwere Gewicht in ihrem Herzen erinnerte sie an den Tag, an dem sie aus dem Kloster ausgezogen war. Auch jetzt glaubte sie, eine Tür würde hinter ihr ins Schloss fallen. Erschöpft lief sie zu Fuß zur Pension. Sie besaß kein Geld für ein Taxi oder die U-Bahn. Doch das interessierte sie nicht. Sie brauchte frische Luft und Zeit, um ganz allein an Theodore zu denken. Während sie durch das Sonnenlicht wanderte, fühlte sie ihn beinahe an ihrer Seite. Nein, er war nicht fortgegangen. So viel hatte er ihr vermacht, so viele Worte und Emotionen, so viele Geschichten. Gewiss, er hatte sie verlassen so wie die anderen – aber er blieb trotzdem bei ihr.
22
Zur allgemeinen Überraschung hatte Professor Thomas seine Angelegenheiten bestens geordnet und sein Testament bei einem Mitbewohner hinterlegt, einem Anwalt im Ruhestand. In dieser Hinsicht war Theodore ziemlich verschwiegen gewesen. Gabriella hatte eher erwartet, ein heilloses Durcheinander vorzufinden. Stattdessen studierte sie präzise Anweisungen. Er hatte sich eine schlichte Trauerfeier gewünscht, vorzugsweise im Freien. Dabei sollten ein paar Zeilen von Tennyson und ein Gedicht von Robert Browning vorgelesen werden, das ihn stets an Charlotte erinnert hatte. Ein Banksafe in der Innenstadt enthielt zahlreiche Papiere und Korrespondenz.
Zutiefst verzweifelt verkroch sich Mrs Rosenstein wie eine trauernde Witwe in ihrem Zimmer. Aber Mrs Boslicki und Steve halfen Gabriella, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen. Gemeinsam besuchten sie ein Bestattungsinstitut und wählten einen einfachen dunklen Sarg. Der Professor sollte auf Long Island bestattet werden, an Charlottes Seite.
In einer gemieteten Limousine fuhren sie zum Friedhof. Nach der Beerdigung stand Gabbie allein vor dem Grab und legte eine rote Rose auf den Sarg. Sie hatte ein Gedicht für Theodore geschrieben, mit bebender Stimme vorgelesen – nach den von ihm gewünschten Texten – und versucht, nicht an Joe zu denken. Währenddessen hatte Steve ihre Hand gehalten. Jetzt war sie dankbar für seinen Beistand und die Kraft, die er ihr gab. Allen Mitbewohnern erleichterte er diese schwere Zeit. Sogar Mrs Boslicki schloss ihn wieder ins Herz.
Professor Thomas war in seinem dunklen Anzug begraben worden. Seine restliche Kleidung schenkten sie einer Wohlfahrtsorganisation. In der
New York Times
erschien ein kurzer Nachruf. Erst jetzt erfuhren sie, wie viele Auszeichnungen er im Lauf seiner Karriere erhalten hatte. Die Testamentseröffnung fand in Mrs Boslickis Wohnzimmer statt. In Anwesenheit aller Hausbewohner las der Anwalt Theodores letzten Willen vor, der ihn ebenso verblüffte wie die Zuhörer. Der Professor hatte ein erstaunliches Vermögen sehr gut angelegt und offensichtlich nicht wegen finanzieller Schwierigkeiten in der billigen Pension gelebt, sondern weil er hier glücklich gewesen war. Seinen guten Freundinnen Martha Rosenstein und Emma Boslicki hinterließ er je fünftausend Dollar, mit herzlichem Dank für ihre langjährige Freundschaft und Liebe. Außerdem bekam Mrs Rosenstein sein einziges Schmuckstück, eine goldene Uhr. Wie viel ihr das bedeuten würde, hatte er offenbar gewusst. Vor lauter Rührung brach sie in Tränen aus. Jenen Teil seiner irdischen Güter, der ihm besonders wichtig gewesen war, nämlich seine Bibliothek, hatte er seiner jungen Freundin Miss Harrison vermacht, zusammen mit dem restlichen Vermögen – etwas über sechshunderttausend Dollar. Als der Anwalt innehielt, um Atem zu schöpfen, und Gabriella musterte, schnappten alle Anwesenden nach Luft. Diese Summe, in verschiedenen Wertpapieren angelegt, befand sich im Safe.
Was Gabbie soeben gehört hatte, konnte sie nicht fassen. Unmöglich ... Warum sollte der Professor ihr so viel Geld vererben?
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