Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Womöglich war ihre Mutter verreist.
Aus dem Hörer tönte eine Bandaufnahme –
Kein Anschluss unter dieser Nummer.
Was sollte sie jetzt tun? Sie stieg in ein Taxi und fuhr zu der Adresse ihrer Mutter. Als sie an der Haustür geklingelt hatte, teilte ihr ein Portier mit, hier würde niemand wohnen, der Waterford oder Harrison hieß. Inzwischen war sie den Tränen nahe. Der Taxifahrer schlug ihr vor, in einer Telefonzelle die Auskunft anzurufen.
Vage erinnerte sie sich an Frank Waterford, den ihre Mutter geheiratet hatte. Ein attraktiver Mann, der kaum ein Wort mit der kleinen Tochter seiner künftigen Ehefrau gewechselt hatte. Nun, jetzt würde er mit ihr reden müssen. Wie sie von der Auskunft erfuhr, wohnte er in der Twenty-eighth Avenue. »Also in Seacliff«, ergänzte der Taxifahrer.
Sie wählte die Nummer, die sie von der Auskunft erhalten hatte. Am anderen Ende meldete sich eine fremde Frauenstimme. Gabriella fragte, ob sie Mrs Waterford sprechen könne, und erfuhr, die Herrschaften würden um halb fünf nach Hause kommen. Bis dahin hatte sie noch eine knappe Stunde Zeit. Sollte sie noch einmal anrufen? Sie beschloss, einfach hinzufahren. Um Punkt halb fünf hielt das Taxi vor dem Haus in Seacliff. In der Zufahrt parkte ein silberner Bentley.
Ihren kleinen Koffer in einer Hand, drückte sie mit der anderen auf den Klingelknopf. Es war derselbe verbeulte Pappkoffer, mit dem sie das Kloster verlassen hatte. Im Gegensatz zu ihrer Garderobe hatte sich ihr Gepäck während des letzten Jahres nicht verbessert. Dies war allerdings auch die erste Reise ihres Lebens.
»Ja?« Eine etwa 50-jährige Frau im gelben Kaschmirpullover öffnete die Tür, eine einreihige Perlenkette um den Hals, die blonden Locken künstlich aufgehellt. »Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte sie sich liebenswürdig. Mit ihrem zerzausten Haar und den großen blauen Augen sah Gabriella wie ein Flüchtlingskind aus, viel jünger als ihre dreiundzwanzig Jahre.
Höflich fragte sie nach Mrs Waterford und blinzelte verwirrt, weil die Frau antwortete, das sei sie selber. Hatte die Telefonauskunft die Adresse eines anderen Frank Waterford genannt?
»Tut mir Leid«, erwiderte die Frau, nachdem Gabriella ihr mitgeteilt hatte, sie suche ihre Mutter.
In diesem Augenblick schlenderte ein hoch gewachsener, kräftig gebauter Mann zur Tür, den Gabriella sofort wiedererkannte – Frank Waterford. In den letzten dreizehn Jahren hatte er sich kaum verändert. Nur sein Haar war ergraut. »Stimmt was nicht?« Irritiert musterte er das Mädchen mit dem schäbigen alten Koffer, das etwas verloren und völlig harmlos wirkte.
»Diese junge Dame sucht ihre Mutter«, erklärte seine Frau. »Offenbar wurde sie zur falschen Adresse geschickt, und ich habe mir gerade überlegt, was sie tun könnte.«
»Gabriella?«, rief er verblüfft. Obwohl sie ihm nur selten begegnet und mittlerweile erwachsen geworden war, erinnerte er sich an sie.
»Ja ... Mr Waterford?«
Lächelnd nickte er.
»Ich bin auf der Suche nach meiner Mutter«, fuhr sie fort und beobachtete, wie die beiden einen verständnisvollen Blick wechselten. »Offensichtlich wohnt sie nicht hier.«
»Nein ...«, bestätigte er etwas unsicher. »Komm doch herein.« Er empfing sie viel freundlicher als am Vortag ihr Vater und schien sich sogar über das Wiedersehen zu freuen. »Stell den Koffer einfach neben die Tür ...« Im Wohnzimmer bot er ihr einen Drink an.
»Wenn ich um ein Glas Wasser bitten dürfte ...«
»Natürlich.« Mrs Waterford ging in die Küche, um den Wunsch der Besucherin zu erfüllen.
»Haben Sie sich von meiner Mutter scheiden lassen?«, fragte Gabriella nervös, und er zögerte kurz.
Aber er konnte ihr die Wahrheit nicht vorenthalten, und es gab auch keinen Grund dafür. »Vor vier Jahren ist sie gestorben. Tut mir Leid, Gabriella.«
Fassungslos starrte sie ihn an. Also hatte ihre Mutter alle Geheimnisse ins Grab mitgenommen, und Gabriella würde sich niemals von der Vergangenheit befreien.
»Nun – ich dachte, dein Vater würde dich verständigen.« Jetzt erkannte sie seinen gedehnten Südstaatenakzent und entsann sich, dass ihre Mutter einmal erwähnt hatte, er würde aus Texas stammen. »Ich habe ihm eine Kopie der Todesanzeige geschickt.«
»Gestern sah ich ihn zum ersten Mal nach vierzehn Jahren wieder. Er informierte mich nicht über den Tod meiner Mutter. Ich verschwieg ihm allerdings, dass ich nach San Francisco fliegen würde.«
»Hast du denn nicht bei ihm
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