Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
nach der Party. John Harrison stieg lautlos die Treppe hinauf. Vor Gabriellas Tür blieb er stehen. Wahrscheinlich war sie schon wach, aber als er ins Zimmer schaute, lag sie im Bett, die Lider gesenkt, unbeweglich – ausnahmsweise nicht am Fußende. Das hielt er für ein gutes Zeichen. Vielleicht hatte die Mutter sie in der Nacht nicht mehr misshandelt. Eloise war wahrscheinlich zu müde gewesen, nachdem er sie verlassen hatte, und zu betrunken, um ihre Zeit mit Gabriella zu verschwenden. Wenigstens hatte sie das Kind diesmal nicht für die Sünden des Vaters bestraft. Zumindest nahm er das an, während er durch den Flur zum ehelichen Schlafzimmer ging.
Immer noch im Abendkleid, die Diamantenkette um den Hals, schlief seine Frau tief und fest. Die Ohrringe lagen neben ihr auf dem Kissen. Als er unter die Decke schlüpfte, rührte sie sich nicht. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie ihn nicht wegen seines überstürzten Aufbruchs befragen würde, wenn sie erwachte. Nach solchen Dingen erkundigte sie sich nur selten. Ein paar Tage lang würde sie ihm kühl und distanziert begegnen. Sobald ein Streit beendet war, wurde er nie mehr erwähnt. Stattdessen strafte Eloise ihren Mann mit beharrlichem Schweigen.
Wie erwartet, erwachte sie erst um zehn, streckte sich träge und schaute ihn an. Dass er neben ihr lag, schien sie nicht zu überraschen. Mittlerweile döste er, holte den Schlaf nach, den er im Apartment an der Lower East Side versäumt hatte. Es gab mehrere solche Adressen, die er gelegentlich aufsuchte. Davon wusste Eloise vermutlich nichts. Selbst wenn sie Verdacht schöpfte, würde sie keine Fragen stellen.
Wortlos stand sie auf, legte ihren Schmuck auf den Toilettentisch und schlenderte ins Bad. Sie erinnerte sich an alles, was letzte Nacht geschehen war, besonders an die Ereignisse nach Johns Verschwinden. Nichts Ungewöhnliches – nichts, was einer Erklärung bedurfte. Also hatte sie ihrem Mann auch nichts zu sagen.
Gabriella blieb in ihrem Zimmer, als Eloise nach unten ging, um das Frühstück vorzubereiten. In der Nacht war die Haushälterin länger hier geblieben und hatte den Angestellten vom Partyservice geholfen, die Küche in Ordnung zu bringen. An diesem Tag, einem Sonntag, hatte sie frei – eine stille, unaufdringliche Frau, die seit Jahren für die Harrisons arbeitete. Sie mochte Eloise nicht, behandelte sie aber sehr höflich und kümmerte sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten. Das wusste Eloise zu schätzen. Insgeheim missbilligte die Haushälterin, wie Mrs Harrison ihre bedauernswerte Tochter erzog. Doch sie mischte sich niemals ein.
Als John endlich herunterkam, saß seine Frau am Küchentisch, trank Kaffee aus einer Limoges-Tasse und las die Sonntagszeitung. »Wo ist Gabriella?«, fragte er und nahm ihr gegenüber Platz. »Immer noch im Bett?«
Ohne von der Zeitung aufzublicken, erwiderte sie frostig: »Gestern Abend ist sie ziemlich spät eingeschlafen.«
»Soll ich sie wecken?« Statt zu antworten, zuckte sie nur die Achseln. Er schenkte sich Kaffee ein, ergriff den Wirtschaftsteil der
Times
und las eine halbe Stunde lang ein paar Artikel, bevor er erneut auf Gabriellas Abwesenheit hinwies. »Womöglich ist sie krank«, meinte er besorgt. Was letzte Nacht passiert war, wusste er natürlich nicht. Aber er hätte es erraten müssen. Wann immer er nach einem Streit die Flucht ergriff, ließ seine Frau ihre Wut an dem Kind aus. Aber daran wollte er nicht denken.
Gegen elf ging er nach oben. Gabriella machte gerade ihr Bett, langsam und ungeschickt, mit vorsichtigen Bewegungen, als hätte sie starke Schmerzen. Trotzdem weigerte er sich beharrlich, die Wahrheit zu registrieren. »Alles in Ordnung, meine Süße?«
Die Augen voller Tränen, nickte sie und dachte voller Trauer an Meredith. Nicht nur ihr Püppchen war in der Nacht gestorben, sondern auch ein Teil ihrer Seele. So grausam hatte die Mutter sie nie zuvor geschlagen. Damit hatte sie die letzte Hoffnung auf ein besseres Leben zerstört. Bald würde sie Gabriella töten. Es gab keine Illusionen mehr, keine Träume, nur den qualvollen Schmerz an einer Seite des Brustkorbs, die Erinnerung an die zerbrochene Puppe. Sicher hätte die Mutter ihr eigenes Kind noch viel lieber an die Wand geschmettert. Das hatte sie allerdings nicht gewagt. Noch nicht.
»Kann ich dir helfen?« John wollte ihr die Decke aus den Händen nehmen. Aber sie schüttelte den Kopf. Nur zu gut wusste sie, was die Mutter glauben würde, wenn sie
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