Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
würde sie grässliche Schmerzen ertragen müssen. »Zieh das gesmokte rosa Kleid an, mit dem passenden Pullover.« Der Befehl war eindeutig, ebenso wie die unausgesprochene Drohung, was mit Gabriella geschehen würde, wenn sie nicht gehorchte. »Bleib in deinem Zimmer, bis wir gehen. Und versuch dich nicht schmutzig zu machen.«
Gabriella nickte und verließ die Küche – ohne Frühstück. An diesem Morgen würde sie länger als normalerweise brauchen, um die Wünsche ihrer Mutter zu erfüllen. Wortlos schaute der Vater ihr nach. In ihrem einträchtigen Schweigen waren sie gewissermaßen Komplizen.
Langsam stieg sie die Treppe hinauf, was ihr noch größere Mühe bereitete als zuvor der Weg nach unten. Aber sie erreichte ihr Zimmer und nahm das rosa Kleid aus dem Schrank. Während sie sich umzog, stand sie Höllenqualen aus. Dafür brauchte sie fast eine Stunde. Immer wieder musste sie Tränen von ihren Wangen wischen. In den Pullover zu schlüpfen – das war die schlimmste Qual dieses Morgens. Schließlich hatte sie die Tortur überstanden. Der Vater kam herauf und erklärte, nun müssten sie aufbrechen. In schwarzen Lackschuhen und weißen Söckchen, im gesmokten rosa Kleid und dem passenden Pullover stieg sie die Stufen hinab. Wie immer glich sie einem kleinen Engel.
»Mein Gott, hast du dich mit Messer und Gabel gekämmt?«, fragte ihre Mutter vorwurfsvoll. Unfähig, die Arme zu heben und sich zu frisieren, hatte sich Gabriella an die törichte Hoffnung geklammert, Mommy würde es nicht bemerken.
»Das habe ich vergessen.« Eine andere Entschuldigung fiel ihr nicht ein. Wenigstens konnte die Mutter ihr nicht vorwerfen, sie würde lügen.
»Geh wieder hinauf. Wenn du das rosa Satinband trägst, fällt dein zerzaustes Haar nicht so auf.«
Unaufhaltsam stiegen Tränen in Gabriellas Augen, und der Vater kam ihr ausnahmsweise zu Hilfe. Er zog seinen Kamm aus der Tasche, und statt ihn in die Hand seiner Tochter zu drücken, fuhr er selbst durch die seidigen blonden Locken. Eine Minute später sah sie präsentabel aus. Geflissentlich übersah er das getrocknete Blut in ihrem Haar. »Jetzt braucht sie dieses Haarband nicht mehr«, erklärte er seiner Frau, während Gabriella dankbar zu ihm aufblickte. In seinem schwarzen Anzug mit dem weißen Hemd und der blauroten Krawatte erschien er ihr attraktiver denn je.
Mutter trug ein graues Wollkostüm mit Pelzkragen, einen eleganten, kleinen schwarzen Schleierhut und makellos weiße Glaceehandschuhe. Zu den schönen schwarzen Wildlederschuhen passte die schwarze Krokodilledertasche ausgezeichnet. Wie üblich glich sie einem Model aus den Frauenzeitschriften. Diesen Eindruck verdarb nur ihre mürrische Miene. Ausnahmsweise verzichtete sie auf einen Streit. Der würde sich wegen eines rosa Satinbands nicht lohnen.
Gerade noch rechtzeitig erreichten sie die Kirche und nahmen auf einer Bank Platz. Gabriella saß zwischen ihren Eltern. Was das bedeutete, erkannte sie sofort. Wenn es ihrer Mutter missfiel, wie sie sich benahm, oder sobald sie sich ein wenig bewegte, kniff sie ihr schmerzhaft in den Arm oder den Schenkel.
Aber Gabriella konnte sich ohnehin kaum rühren. Jeder Atemzug tat ihr weh. Halb benommen von ihren Schmerzen, nahm sie die Ereignisse des Gottesdienstes kaum wahr. Meistens schloss Eloise die Augen und schien konzentriert zu beten. Doch sie schaute ihre Tochter mehrmals an. Glücklicherweise saß Gabriella in diesen kritischen Momenten immer völlig reglos da und versuchte, möglichst flach zu atmen, um die Qualen in ihrem Brustkorb zu lindern.
Nach der Messe folgte sie ihren Eltern nach draußen. Eine Zeit lang unterhielten sie sich mit Freunden, und einige bemerkten, Gabriella würde sehr hübsch aussehen. Diese Komplimente ignorierte ihre Mutter. Jedes Mal, wenn Gabriella fremden Leuten vorgestellt wurde oder Bekannte begrüßte, musste sie Hände schütteln und knicksen. Trotz ihrer Schmerzen blieb ihr nichts anderes übrig.
»Was für ein braves Kind«, wandte sich jemand an John, und er nickte. Aber Eloise überhörte das Lob. Von ihrer Tochter erwartete sie Perfektion, und Gabriella tat ihr Bestes, obwohl ihr das an diesem Tag noch schwerer fiel als sonst.
Eine halbe Ewigkeit schien zu verstreichen, bevor sie endlich ins Plaza zum Lunch gingen. Musik erklang, exquisite Silbertabletts mit Teesandwiches wurden herumgereicht. Zu Gabriellas Freude bestellte der Vater ihr heiße Schokolade, die mit einem Häubchen Schlagsahne serviert wurde, und die
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