Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
nur selten. Nun kicherte sie wie ein junges Mädchen. Dann verhallten die Stimmen der Eltern, die Tür des ehelichen Schlafzimmers fiel ins Schloss. Was da drinnen geschehen mochte, wusste sie nicht. Würden sie streiten? So hörte sich's nicht an. Sie lachten unentwegt. Eine Zeit lang saß Gabriella nur da und wartete – denn irgendwann mussten sie herauskommen, und sei es auch nur, um ihr so etwas Ähnliches wie ein Dinner zu machen.
Aber am Ende des langen Nachmittags waren sie immer noch nicht aufgetaucht. Dagegen konnte sie nichts unternehmen. Natürlich durfte sie nicht an die Tür klopfen oder nach ihnen rufen oder womöglich eine Erklärung fordern, warum sie ignoriert wurde, warum sie sich selbst überlassen blieb und nichts zu essen bekam.
Vor dem Morgen zeigten sie sich nicht mehr. Zumindest vorübergehend hatten sie Frieden geschlossen und genossen die Privatsphäre ihres Schlafzimmers. Was in der vergangenen Nacht geschehen war, hatte Eloise ihrem Mann verziehen. Eine solche Reaktion verwirrte ihn allerdings. An diesem Tag hatte sie jedoch so hübsch ausgesehen, dass er sich tatsächlich wieder zu ihr hingezogen fühlte. Außerdem war er der Frau, die er normalerweise hasste, nach einigen Drinks im Plaza etwas freundlicher gesinnt.
Aus irgendwelchen Gründen befanden sich beide in ungewöhnlich sanfter Stimmung. Aber ihrer Tochter galten diese neuen Gefühle keineswegs. Ebenso wie John wusste auch Eloise, dass die Waffen nur kurzfristig ruhen würden. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – kosteten sie die angenehme, friedliche Atmosphäre in vollen Zügen aus. Und Eloise beschloss, keine einzige Minute im Ehebett zu verpassen, statt das Abendessen für ihr Kind vorzubereiten.
Natürlich hätte Gabriella hinuntergehen können. Nach der Party waren sicher einige Sandwiches übrig geblieben. Aber sie wusste nicht, was sie riskieren würde, wenn sie sich eins nahm. Also blieb sie lieber in ihrem Zimmer und wartete. Die Eltern mussten bald herauskommen. Jetzt lachten sie nicht mehr und redeten hinter verschlossener Tür.
Schließlich wurde es neun Uhr, dann sogar zehn. Mommy und Daddy hatten sie offensichtlich vergessen. Letzten Endes ging sie ins Bett – dankbar, weil der Tag vorbei und ihr nichts allzu Schlimmes zugestoßen war. Doch das konnte immer noch geschehen, so wie in der letzten Nacht, wenn der Vater die Mutter ärgerte oder allein ließ, wenn er aus dem Haus stürmte, wie schon so oft, mochte sie's verdienen oder nicht. Alles war möglich. Und Gabriella würde den Preis für seine Schwächen und sein Versagen zahlen müssen.
Aber diesmal passierte nichts dergleichen. Mommy und Daddy blieben in ihrem Zimmer, und Gabriella schlief mit leerem Magen ein.
4
Gabriella hatte das lieblose Verhalten ihrer Eltern zwei weitere Jahre lang überstanden. Um ihnen gelegentlich zu entrinnen, zog sie sich in eine eigene Welt zurück, schrieb Gedichte, Geschichten und Briefe an imaginäre Freundinnen. In dieser Fantasiewelt konnte sie die schreckliche Wirklichkeit für eine oder zwei Stunden vergessen. Ihre Geschichten handelten von glücklichen Menschen, die ein wundervolles Leben führten – niemals von ihrem eigenen Schicksal oder den Dingen, die Mommy ihr nach wie vor antat, vor allem wenn sie in diese gewissen Stimmungen geriet. Die schriftstellerische Tätigkeit war ihre einzige Möglichkeit, die Qualen zu überleben – die einzige Zuflucht vor der grausamen Realität in einer scheinbar komfortablen Umgebung.
Weder die vornehme Adresse noch das beträchtliche Einkommen des Vaters oder die distinguierte Herkunft beider Eltern schützten Gabriella vor einem Elend, das andere Leute nur in Albträumen erlebten. Für Gabriella bedeuteten die Eleganz der Mutter, die kostbaren Juwelen und die schönen Kleider in ihrem Schrank gar nichts, denn sie kannte die bitteren Widersprüche des Lebens besser als die meisten Menschen. Schon in früher Jugend hatte sie herausgefunden, was wesentlich war und was nicht. Am wichtigsten erschien ihr die Liebe. Und so dachte sie daran, träumte davon und schrieb Gedichte darüber.
Immer noch priesen die Freunde der Eltern Gabriellas Schönheit, die blonden Locken, die großen blauen Augen. In der Schule wurde ihr untadeliges Benehmen gelobt. Sie bekam ausgezeichnete Noten. Wenn die Lehrer auch beklagten, dass sie nur selten sprach und in der Klasse nur Fragen beantwortete, die direkt an sie gestellt wurden, war sie ihren Mitschülern weit voraus. Sie las sehr
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