Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
viel. So wie die eigene Schriftstellerei führten sie auch die Bücher in andere Welten, die Lichtjahre von ihrer eigenen entfernt lagen.
Weil sie so gern las und schrieb, hatte die Mutter eine neue Methode gefunden, um die Tochter zu quälen – sie warf Gabriellas Bücher, die Bleistifte und das Papier weg. Sie merkte stets sehr schnell, was dem Kind wichtig war, und so versperrte sie gehässig ständig seine Fluchtwege. Aber wenn das geschah, versank Gabriella im Reich ihrer Gedanken und Träume. Wenigstens dort konnten die Eltern ihr nichts zu Leide tun. Aus unerklärlichen Gründen erkannte sie instinktiv, dass sie alles überleben würde.
Fast täglich wurde sie von Eloise zur Hausarbeit gezwungen, musste den Küchenboden schrubben, Geschirr spülen und das Silber polieren. Die Mutter behauptete, das Kind sei maßlos verwöhnt und deshalb verpflichtet, sich im Haushalt nützlich zu machen. Ihr eigenes Zimmer brachte Gabriella selbst in Ordnung, und sie kümmerte sich auch um das Wohl ihrer Eltern. Keine einzige Sekunde durfte sie untätig vergeuden, im Gegensatz zu anderen Kindern, die im Freien spielten oder Freunde einluden. Gabriellas Alltag war nichts weiter als ein Überlebenskampf. Während sie heranwuchs, änderten sich die Regeln, die sie befolgen musste, fast täglich, und sie entwickelte eine wahre Meisterschaft in der Kunst, die Drohungen der Mutter richtig zu deuten, deren jeweilige Stimmung zu erforschen und alles zu tun, um keine Wutanfälle heraufzubeschwören.
Trotzdem wurde sie nach wie vor verprügelt. Aber jetzt hielt sie sich glücklicherweise länger in der Schule auf, und so konnte sie der Hölle ihres Heims wenigstens stundenweise entrinnen. Unweigerlich waren die Sünden, die ihr jetzt angelastet wurden, viel schlimmer als die früheren. Sie vergaß ihre Hausaufgaben, verlor Kleidungsstücke oder zerbrach einen Teller, wenn sie das Geschirr spülte. Klug genug, um keine Entschuldigungen für ihre Fehlschläge anzuführen, nahm sie jede Strafe hin. In der Schule verbarg sie die Wundmale geschickt vor den Lehrern und den wenigen Kindern, mit denen sie spielte. Meistens verkroch sie sich in ihrem Schneckenhaus. Nach der Schule konnte sie ihre Klassenkameraden ohnehin nicht sehen. Ihre Mutter erlaubte ihr nicht, jemanden einzuladen. Schlimm genug, dass Gabriella alles im Haus demolierte. Dabei sollten ihr andere Kinder nicht auch noch helfen, betonte Eloise. Ein Kind ertragen zu müssen – das stieß bereits an die Grenzen ihrer Nervenkraft.
Nur zwei Mal in drei Jahren hatten die Lehrer gemerkt, dass irgendetwas mit Gabriella nicht stimmte. Einmal, in der Pause, war beim Seilspringen der Rock ihrer Schuluniform hochgerutscht und hatte beängstigende blaue Flecken an ihren Schenkeln enthüllt. Als sie befragt wurde, erzählte sie, neulich sei sie im Garten ihrer Eltern vom Fahrrad gefallen. Die Lehrer bemitleideten sie und meinten, der Sturz müsse sehr wehgetan haben. Dann vergaßen sie, was sie gesehen hatten. Beim zweiten Mal, zu Beginn dieses Schuljahrs, waren Gabriellas Arme zerkratzt gewesen, und sie hatte sich das Handgelenk verstaucht. Aber ihr Gesicht sah erstaunlich unversehrt aus, und die blauen Augen wirkten arglos und unschuldig, als sie erklärte, sie sei am Wochenende von einem Pferd abgeworfen worden. Bis ihr Handgelenk verheilte, musste sie keine Hausaufgaben machen. Doch das wollte sie der Mutter am Abend nicht verraten. Und so erledigte sie die Hausaufgaben trotzdem und legte sie den Lehrern am nächsten Tag vor.
Der Vater übersah weiter geflissentlich die häuslichen Ereignisse. In den letzten beiden Jahren hatte er viele Geschäftsreisen unternommen. Gabriella spürte, dass irgendetwas zwischen ihren Eltern geschehen war, wusste aber nicht, was es gewesen sein mochte oder wann es begonnen hatte. Jedenfalls schliefen sie seit sechs Monaten getrennt, und die Mutter erschien ihr zorniger denn je, wann immer sich der Vater zu Hause aufhielt.
In seiner Abwesenheit ging Eloise fast jeden Abend mit Freunden aus und ließ ihre Tochter allein. Gabriella hatte keine Ahnung, ob der Vater darüber informiert war. Wenn er zwischen zwei Reisen ein paar Tage daheim verbrachte, blieb die Mutter zu Hause. Aber die Ehe verschlechterte sich zusehends. Ständig schrie Eloise ihren Mann an und schleuderte ihm wüste Beleidigungen ins Gesicht, ganz egal, ob Gabriella zuhörte oder nicht. Dabei ging es meistens um andere Frauen, die sie »Huren« oder »Flittchen« nannte. Erbost warf
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