Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Während sie zwischen Bewusstsein und schwarzer Leere hin und her schwebte, merkte sie verblüfft, dass ihr diesmal nichts wehtat. Sie spürte gar nichts. Die ganze Nacht schienen Lichtkreise über ihrem Kopf zu schwirren. Einmal glaubte sie, Stimmen zu hören, verstand aber kein einziges Wort. Erst am Morgen erkannte sie, dass tatsächlich jemand mit ihr sprach. Die Stimme klang vertraut. Aber was sie sagte, drang nicht in Gabriellas Bewusstsein. Sie registrierte nicht einmal, dass ihr Vater vor ihr stand.
Seine Tränen sah sie nicht, und ebenso wenig vernahm sie seinen Schreckensschrei, als er feststellte, was Eloise in ihrer blinden Wut verbrochen hatte. Gabriella lag in ihrem Blut, das Haar verklebt, die Augen glasig und blicklos. An der Innenseite eines Schenkels klaffte eine tiefe Wunde. Er wollte einen Krankenwagen rufen. Doch er wagte es nicht. Ohne seiner Frau Bescheid zu geben, wickelte er Gabriella in eine Decke, trug sie aus dem Haus und winkte ein Taxi heran.
In der Klinik angekommen, wusste er nicht einmal, ob sie noch atmete. Aber er brachte sie hinein und legte sie auf eine leere Trage. Mit tränenerstickter Stimme rief er um Hilfe und behauptete, sie sei die Treppe hinabgestürzt. Beim Anblick des schwer verletzten Mädchens zweifelte niemand an dieser Erklärung, und man stellte keine weiteren Fragen. Eine Sauerstoffmaske wurde auf das kleine bleiche Gesicht gelegt. Dann verschwand Gabriella, von besorgten Ärzten und Schwestern umringt, im OP.
Stundenlang saß John auf einer Bank und wartete, vor Angst und Entsetzen halb benommen. Erst um vier Uhr nachmittags versicherte man ihm, seine Tochter würde den Unfall überleben. Sie litt an einer Gehirnerschütterung, drei gebrochenen Rippen, einem geplatzten Trommelfell und einer klaffenden Wunde am rechten Bein. Aber man hatte sie zusammengeflickt. Nach ein paar Tagen würde sie das Schlimmste überstanden haben. Ein junger Doktor fragte, wie viel Zeit zwischen Gabriellas Sturz und dem Augenblick verstrichen sein mochte, wo ihr Vater sie gefunden hatte. Vielleicht ein paar Stunden, antwortete John. Er wisse nicht, wann sie hinabgefallen sei. Dass er den Großteil der Nacht woanders verbracht hatte, verschwieg er.
»Bald ist sie wieder gesund«, versicherte der junge Arzt, und die Schwestern versprachen, sie würden gewissenhaft für die kleine Patientin sorgen.
John warf einen kurzen Blick auf seine schlafende Tochter. Dann verließ er die Klinik, stieg in ein Taxi und fuhr nach Hause. Was sollte er seiner Frau sagen? Wie konnte er den Albtraum beenden? Nur eins war ihm klar – er musste sich jetzt selbst in Sicherheit bringen. Wenigstens war Gabriella momentan in guten Händen. Ein Wunder, dass sie diese Nacht überlebt hatte ...
Zögernd betrat er das Haus und stieg die Treppe hinauf. Zu seiner Erleichterung ließ sich Eloise nirgends blicken. Er hatte keine Ahnung, wo sie stecken mochte, und es interessierte ihn auch nicht. Er ging in die Bibliothek, schenkte sich einen Whisky ein, dann sank er auf die Couch und wartete. Wie würde er sich verhalten, wenn Eloise zurückkam? Was konnte er ihr sagen? Sie war kein Mensch, eher ein Wesen von einem anderen Stern, eine seelenlose Maschine, die alles zerstörte, was sie berührte. Wie konnte er sie jemals geliebt und geglaubt haben, sie wäre die Richtige für ihn – eine wunderbare Ehefrau und Mutter? Jetzt kannte er nur noch einen einzigen Gedanken – er musste flüchten, an einen möglichst fernen Ort. Er hatte geplant, die nächste Nacht mit Barbara zu verbringen. Aber vorher musste er mit Eloise reden – hoffentlich zum letzten Mal.
Kurz nach Mitternacht kam sie nach Hause, in einem dunkelblauen Abendkleid. Als sie die Bibliothek betrat, sah sie wie eine böse Märchenkönigin aus – die Königin der Nacht. Verächtlich musterte sie ihren Mann, der betrunken und in sich zusammengesunken auf der Couch saß.
»Wie nett, dass du mich besuchst, John!« In ihrer Stimme schwang eisiger Abscheu mit, der sogar den Nebel seines alkoholisierten Gehirns durchdrang. »Was verschafft mir die Ehre? Ist Barbara verreist? Oder bedient sie gerade einen anderen Kunden?« Langsam ging sie in die Mitte des Raums und schwenkte ihre perlenbesetzte kleine Handtasche umher. Am liebsten hätte er ihr seinen Drink ins Gesicht geschüttet. Aber er beherrschte sich. Was er auch tun oder sagen mochte, konnte sie nicht verletzen, weil sie kein menschliches Wesen war.
»Weißt du, wo unsere Tochter ist, Eloise?«,
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