Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
teilen – falls die übereifrigen Nonnen nicht alles pflücken und ausgraben, bevor's reif ist. Vor allem die Erdbeeren haben's ihnen angetan. Da drüben liegt ein großes Feld. Im letzten Mai haben sie fabelhaft geschmeckt.«
Bei ihren Worten erinnerte er sich an seine Kindheit in Ohio. »Als halbwüchsiger Junge wohnte ich im St. Mark's. Damals pflückte ich oft Brombeeren. Jedes Mal kam ich ganz zerkratzt und voller Beerensaft ins Kloster zurück. Auf dem Heimweg hatte ich fast alle Beeren gegessen, und danach litt ich einmal tagelang an Bauchschmerzen. Die Brüder behaupteten, damit habe mich der Allmächtige für meine Gier bestraft. Trotzdem pflückte ich immer wieder Brombeeren und verspeiste sie in rauen Mengen. Ich fand, es würde sich lohnen, weil sie einfach zu gut schmeckten.«
»Sind Sie in einem Internat aufgewachsen?« Gabriella unterhielt sich nur selten mit Menschen, die nicht im St. Matthew's lebten, und so war ihre Neugier ganz natürlich. Weil er so freundlich und zwanglos mit ihr sprach, überwand sie mühelos ihre angeborene Scheu. Schwester Annes hässliche Anklage war längst vergessen.
»Ja, man könnte es ein Internat nennen. Mit vierzehn Jahren verlor ich meine Eltern. Da ich keine Verwandten hatte, wohnte ich bis zum Highschool-Abschluss im Waisenhaus meiner Heimatstadt, das von Franziskanern geleitet wird. Dort ging es mir sehr gut.«
»Als ich zehn war, brachte meine Mutter mich hierher«, sagte Gabriella leise und blickte über den Garten hinweg.
Das wusste er bereits. »Wie ungewöhnlich ...« Er erinnerte sich, dass sie bei jener ersten Beichte erwähnt hatte, die Mutter habe sie geschlagen. Also war der Entschluss dieser Frau, ihr Kind den Nonnen zu übergeben, ein wahrer Segen gewesen. »Gab es finanzielle Probleme?«
»Keineswegs. Sie wollte wieder heiraten, und ich passte nicht in ihr neues Leben. Ein Jahr zuvor hatte uns mein Vater wegen einer anderen Frau verlassen. Aus irgendwelchen Gründen gab meine Mutter immer
mir
die Schuld an ihren Schwierigkeiten.«
Voller Mitleid beobachtete er Gabriella. »Fühlten
Sie
sich tatsächlich daran schuldig?« Er wollte herausfinden, warum sie im St. Matthew's geblieben war, denn er fand es sehr wichtig, das Seelenleben der Menschen zu verstehen, die er betreute.
»Ja. Immer machte sie mich für alles verantwortlich, schon in meiner Kindheit. Und ich glaubte ihr. Ich dachte, wenn meine Mutter mich zu Unrecht verprügelt hätte, wäre mein Vater mir zu Hilfe gekommen. Das tat er nicht. Also akzeptierte ich meine Schuld. Immerhin waren sie meine Eltern.«
»Das klingt schrecklich«, meinte er, und sie schaute lächelnd zu ihm auf. Jetzt, nach all den Jahren in Frieden und Sicherheit, erschien ihr die Vergangenheit nicht mehr so tragisch.
»Gewiss. Aber das Schicksal eines 14-jährigen Waisenjungen muss noch grausamer sein. Sind Ihre Eltern bei einem Unfall gestorben?« Wie alte Freunde sprachen sie miteinander und merkten gar nicht, wie schnell die Zeit verging.
»Nein, mein Vater erlitt ganz plötzlich einen tödlichen Herzanfall, mit zweiundvierzig Jahren, drei Tage später beging meine Mutter Selbstmord. Ich war zu jung, um das zu verstehen. Wahrscheinlich wollte sie in ihrer Verzweiflung nicht weiterleben. Eine Therapie hätte ihr sicher geholfen. Wegen dieser bitteren Erfahrungen ist es mir so wichtig, in die Seelen der Menschen zu blicken.« Gabriella nickte und fragte sich, welche Art von Therapie der Grausamkeit ihrer Mutter entgegengewirkt hätte. »Was sie mir antat, verzieh ich ihr erst Jahre später. Inzwischen sprach ich mit mehreren Leuten, die verängstigt oder einsam waren und keinen Ausweg sahen. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen niemanden finden, mit dem sie reden können. Manchmal geraten sie wegen irgendwelcher Probleme in Panik, die Außenstehenden gar nicht so furchtbar vorkommen.«
»Wie Schwester Anne«, warf sie ein, und beide lachten. Sie hatten einander sehr viel anvertraut. Nun wussten sie, dass ihr Schicksal und seines gemeinsame Züge aufwiesen. Beide hatten ihr Leben in der Außenwelt und ihre Familien verloren, ganz plötzlich und für immer. Und die selbst gewählte Zukunft würde sie niemals mit jenen Schwierigkeiten konfrontieren, die sie in der Kindheit fast vernichtet hätten. »Wann haben Sie beschlossen, Priester zu werden?«, fragte sie, während sie langsam durch den Garten zum Haus gingen.
»Mit fünfzehn. Nach der Highschool besuchte ich das Seminar. Für mich war das die einzig
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