Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Irgendwie haben wir beide das Beste aus unseren Möglichkeiten gemacht, nicht wahr?«, fuhr er lächelnd fort. Aber als sich ihre Blicke begegneten, entsannen sich beide, wie hart sie ihr neues Leben erkämpft, wie viel sie in der Vergangenheit zurückgelassen hatten und welch weite Wege sie gegangen waren. Behutsam ergriff er Gabriellas Hand, und die Berührung verwirrte sie. Seine Finger fühlten sich warm und stark an. Wieder einmal erinnerte er sie an ihren Vater. Vielleicht, weil sie keinem anderen Mann so nahe gewesen war ... Als spürte der Priester ihre Verlegenheit, ließ er sie los und stand auf. »Mal sehen, wie beschwipst meine Kumpel sind, nachdem sie den ganzen Nachmittag diesen exquisiten Wein getrunken haben. Hoffentlich kann ich sie alle wohlbehalten in die St. Stephen's School zurückbringen.«
Vor ihrem geistigen Auge erschien das Bild angeheiterter Priester im Kreis fröhlicher Nonnen. Unwillkürlich lachte sie. »So schlimm wird's schon nicht sein«, meinte sie und sah sich um. Zwei Priester unterhielten sich mit der Oberin, der dritte plauderte mit einer Familie, die er kannte. Offenbar versuchte Schwester Emanuel gerade, die Postulantinnen und Novizinnen zusammenzutrommeln, die in der Küche Ordnung machen sollten. Die Gäste wirkten gut gelaunt, aber müde. Für alle war es ein wunderbares Osterfest gewesen, besonders für Gabriella, die ein so langes, ermutigendes Gespräch mit Vater Connors geführt hatte. »Über solche Dinge rede ich mit keinem anderen«, gestand sie, »weil sie mir immer noch Angst einjagen.«
»Dagegen sollten Sie ankämpfen, Gabbie. Das einstige Leid kann Ihnen nichts mehr anhaben, es ist vorbei. Hier sind Sie sicher. Die Dämonen der Vergangenheit werden Sie nie mehr heimsuchen, und Sie müssen nicht in jene Welt zurückkehren.« Mit seiner beschwörenden Stimme schien er sie von unsichtbaren Fesseln zu befreien, und sie gewann den Eindruck, allein schon seine Nähe würde sie beschützen. »Bei der Beichte sehen wir uns wieder, Gabbie. Halten Sie sich inzwischen von Schwester Anne fern«, empfahl er ihr grinsend. Manchmal fühlte er sich uralt, wenn er mit ihr redete. Sie war einundzwanzig und wusste so wenig von der Welt da draußen. Zehn Jahre älter als Gabriella, hielt er sich für abgeklärt und wesentlich klüger.
»Sicher wird sie sich furchtbar aufregen, weil wir uns heute unterhalten haben«, seufzte Gabriella. Dass sie sich ständig gegen die Anklagen der missgünstigen jungen Postulantin verteidigen musste, zerrte allmählich an ihren Nerven.
»Warum denn?«, fragte er verwundert.
»Keine Ahnung ... Sie hat dauernd was an mir auszusetzen. Letzte Woche warf sie mir vor, ich würde Geschichten schreiben, statt an der Morgen- oder Abendandacht teilzunehmen. Egal was ich tue, sie beschwert sich darüber.«
»Schließen Sie Schwester Anne in Ihre Gebete ein. Irgendwann wird sie's satt haben, Sie zu beschuldigen.«
Sie nickte lächelnd, verabschiedete sich von Vater Joe und eilte in die Küche. Dort warteten Berge von Geschirr, Töpfen und Pfannen, die gespült werden mussten, und der Steinboden strotzte vor Flecken. Ausnahmsweise war Schwester Anne so beschäftigt, dass sie Schwester Bernies Ankunft gar nicht bemerkte. Gabriella band sich eine Schürze um, ergriff eine Hand voll Stahlwolle und eine Flasche Scheuermilch und ging an die Arbeit.
Nach ein paar Stunden erstrahlte die Küche wieder im alten Glanz. Inzwischen waren die letzten Gäste gegangen. Die Nonnen nahmen noch für eine Weile in der Halle Platz und lobten das köstliche Festmahl, das die Postulantinnen und Novizinnen zubereitet hatten.
Wieder in der St. Stephen's School, saß Vater Joe in seinem Zimmer und starrte nachdenklich aus dem Fenster.
10
W ährend der nächsten beiden Monate nahm Gabriella am Unterricht für die Postulantinnen teil und besuchte regelmäßig den Gottesdienst, erledigte ihre Haushaltspflichten und pflegte den Gemüsegarten. Eine Zeit lang hatte sie an einer neuen Geschichte gearbeitet, die immer länger geworden war. Nachdem Mutter Gregoria ein paar Seiten gelesen hatte, meinte sie voller Stolz auf ihren Schützling, daraus könnte ein Roman werden. Froh und zufrieden begrüßte Gabriella jeden neuen Tag. Vorerst wurde sie nicht einmal von Schwester Anne gepeinigt.
Im Juni wurde es immer heißer in New York, und einige ältere Nonnen suchten ihr Schwesternkloster in den Catskills auf. Die jüngeren blieben in der Stadt, um im Mercy Hospital und in der Schule
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