Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
sich alles geändert, innerhalb weniger Minuten. Sie war zur Frau gereift, und sie liebte Joe. »Heute Morgen wurde ich gebeten, jeden Tag ins Kloster zu kommen, die Messe zu lesen und den Nonnen die Beichte abzunehmen.« Bisher hatte er sich mit Vater Paul abgewechselt. Aber dem alten Priester ging es gesundheitlich nicht gut, und er fand, in der St. Stephen's School hätte er genug zu tun. Außerdem kam Vater Joe mit allen Nonnen gut aus, und so hatte ihn der ältere Kollege ersucht, diese Aufgabe zu übernehmen. »Erzähl mir morgen, was du dir ausgedacht hast.«
»Vermutlich wird's ein paar Tage dauern«, erwiderte sie. Dann lächelte sie spitzbübisch, und es drängte ihn, die Nonnenhaube zu entfernen, die ihr goldblondes Haar fast verbarg. Wie gern würde er sehen, wie lang es war ... Alles von ihr wollte er betrachten, liebkosen und sie küssen, bis ihnen beiden der Atem ausging. Natürlich durfte er sie nicht länger in diesem abgeschiedenen Raum festhalten. Bald musste sie zu den anderen Postulantinnen zurückkehren, sonst würde man sie vermissen. Doch es fiel ihm unendlich schwer, sich von ihr zu trennen, wenn auch nur für ein paar Stunden.
»Am liebsten würde ich euch zwei Mal am Tag die Beichte abnehmen, nur um mit dir zu reden«, seufzte er und feixte wehmütig. Von einer überwältigenden Macht getrieben, küssten sie sich wieder in wachsender Leidenschaft.
»Ich liebe dich«, wisperte sie und wollte viel mehr von ihm, als er sich vorzustellen wagte.
»Und ich dich. Aber jetzt muss ich dich verlassen. Bis morgen.«
»Hier können wir uns treffen. Niemand kommt in dieses Büro. Und ich weiß, wo Schwester Emanuel den Schlüssel verwahrt.«
»Sei vorsichtig!«, mahnte er. »Mach keine Dummheiten.« Eindringlich schaute er in ihre Augen, und sie musste lachen.
»Als ob du nicht genauso verrückt wärst wie ich ...«
Außerhalb dieser Mauern würden sie sich vielleicht noch viel leichtsinniger benehmen ...
»Bist du mir böse, weil ich dir meine Liebe erklärt habe, Gabbie?«, fragte er besorgt und stand auf. Mit diesem Geständnis hatte er einiges riskiert und sie beide in Gefahr gebracht. Aber wie ihm ihre strahlenden Augen verrieten, bedauerte sie nichts.
»Wie könnte ich dir böse sein, Joe? Ich liebe dich. Und ich bin froh, dass du's mir gesagt hast.« Für sie war die Situation etwas einfacher, denn sie hatte ihr endgültiges Gelübde noch nicht abgelegt und nicht einmal das Noviziat erreicht. Hingegen versah Joe das Priesteramt seit über sechs Jahren. Wenn die verbotene Liebe ans Licht kam, musste er mit schwerwiegenden Konsequenzen rechnen.
»O Gabbie, ich weiß nicht, was wir tun sollen«, sagte er bedrückt.
»Warten wir ab, was geschehen wird. Sicher fällt uns irgendwas ein.« Noch nie hatte sie eine so ermutigende Kraft in ihrem Herzen gespürt. Sie fühlte sich sogar stärker als er. »Jetzt ist es noch zu früh, um alles abzuwägen, was auf uns zukommt. Nur eins weiß ich – ich liebe dich, Joe, und das genügt vorerst.«
»Ja, es ist viel mehr, als ich hoffen durfte. Ich dachte, wenn ich dir mein Herz ausschütte, würdest du kein Wort mehr mit mir reden. Ich hatte solche Angst ...« Zärtlich legte sie einen Finger auf seine Lippen, und er küsste ihre Hand. »Vergiss nicht, was du mir bedeutest«, flüsterte er. Nur widerstrebend riss er sich von ihr los. In der Tür drehte er sich noch einmal um, lächelte ihr zu und eilte dann davon.
Träumerisch lauschte sie seinen Schritten nach. Was sich soeben ereignet hatte, vermochte sie kaum zu fassen. Einerseits war sie überglücklich, andererseits fürchtete sie die Gefahren, die ihr drohten. Wie lange konnten sie das Geheimnis hüten? Möglicherweise sehr lange. Sie mussten sich in Acht nehmen, bis sie beschließen würden, wie sie ihre Zukunft gestalten wollten. Und diese Entscheidung lag vor allem bei Joe.
Sie sah die restlichen staubigen Bücher durch. Aber sie fand nur eines der vermissten Hauptbücher. Damit würde sich Schwester Emanuel zunächst begnügen, und Gabriella hatte einen Vorwand, dieses Büro noch mehrmals aufzusuchen. Wenigstens eine Zeit lang konnte sie Joe hier treffen. Sie verließ den Raum und versperrte die Tür hinter sich.
Auf dem Weg zu Schwester Emanuel glaubte sie, auf Wolken zu schweben. Er liebte sie – er hatte sie geküsst – er wollte für alle Zeiten mit ihr zusammen sein ... Was sie in dieser letzten Stunde erlebt hatte, erschien ihr wie ein Märchen. Aber der Klang seiner Worte
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