Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
wir uns wieder, Schwester. Gute Nacht.« Lächelnd winkte er allen Nonnen zu und folgte seinen drei Kollegen aus dem Klostergarten.
Gabriella ging mit den anderen Postulantinnen ins Haus. Was für ein wunderbarer Feiertag ... Verwirrt erkannte sie, woran sie sich besonders lebhaft erinnerte – an den Augenblick, wo sie seine Hand umfasst hatte.
»Stimmt's nicht, Schwester Bernadette?« Eine der Postulantinnen hatte ihr eine Frage gestellt. In Gedanken an Joe und seinen Bruder Jimmy versunken, hatte Gabriella ihr nicht zugehört.
»Oh, verzeihen Sie, Schwester ... Ich habe Sie nicht verstanden ...«
Alle wussten, dass Schwester Bernie manchmal schlecht hörte – vor allem, wenn die Nonnenhaube ihre Ohren bedeckte. Aber sie verloren niemals die Geduld. In diesem Augenblick hätte keine einzige Schwester vermutet, dass sie an Vater Joe und seinen Bruder dachte.
»Ich sagte nur, Schwester Mary Marthas Zitronenkekse hätten wundervoll geschmeckt. Dieses Rezept muss sie mir unbedingt geben.«
»Ja, ganz köstlich«, stimmte Gabriella zu und folgte den Frauen die Treppe hinauf – in Gedanken meilenweit entfernt, am Ufer eines Flusses, dessen Strömung einen kleinen Jungen in die Tiefe riss, während ein anderer schluchzend zuschaute. Ihr Herz flog Vater Joe entgegen. Hätte sie ihn doch in die Arme nehmen können ...
In ihrer Fantasie sah sie immer noch seinen kummervollen Blick, der das silberne Mondlicht widerspiegelte. Und jetzt brannten in ihren eigenen Augen Tränen. In dieser Nacht würde sie für ihn beten und den Allmächtigen anflehen, er möge ihm helfen, sich selbst zu verzeihen. Ja, sie wollte beten – für den Freund, den sie lieb gewonnen hatte, und für die Seele seines Bruders.
11
Nach dem Picknick am 4. Juli sah sie Vater Joe ein paar Tage lang nicht. Über den schönen Feiertag und das Baseballmatch, das im St. Matthew's Geschichte geschrieben hatte, redeten die Nonnen, Postulantinnen und Novizinnen immer noch. Sie konnten es kaum erwarten, das Barbecue nächstes Jahr zu wiederholen. Von dieser fröhlichen Stimmung beflügelt, verstand Gabriella nicht, warum ihr Vater Joe am Wochenende so kühl gegenübertrat. Fast griesgrämig, dachte sie. War er ihr böse oder einfach nur schlecht gelaunt? Hatte er Sorgen? Jedenfalls behandelte er sie reserviert, beinahe unfreundlich. Bereute er, dass er ihr vom Tod seines Bruders erzählt hatte?
Sie wollte herausfinden, was ihn bedrückte. Doch sie wagte nicht, ihn anzusprechen, weil sich einige Nonnen in der Nähe aufhielten. Außerdem war er ein Priester und sie eine Postulantin – wenn er seine Position auch nie hervorkehrte. Warum hatte er sich seit dem 4. Juli so drastisch verändert?
An diesem Tag nahm er ihr die Beichte ab, so kurz angebunden, dass sie sich fragte, ob er ihr überhaupt zugehört hatte.
Als Buße erlegte er ihr zwei Ave-Marias und ein Dutzend Vaterunser auf. Auch das sah ihm nicht ähnlich. Jetzt ertrug sie es nicht länger. Zaudernd flüsterte sie ins Dunkel: »Wie geht es Ihnen?«
»Gut«, antwortete er brüsk, und da brachte sie kein Wort mehr hervor. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Statt ihr so ungezwungen und liebenswürdig zu begegnen wie bisher, wirkte er geistesabwesend und frostig. Hatte er mit einem anderen Priester gestritten? War er von einem seiner Vorgesetzten getadelt worden? In Kirchenkreisen wurde oft politisiert und intrigiert. Das wusste sie, nachdem sie so viele Jahre in einem Kloster verbracht hatte.
Beklommen verließ sie den Beichtstuhl und kniete in einer Kirchenbank nieder, um ihre Bußgebete zu verrichten. Danach wollte sie Schwester Emanuel einen Gefallen tun. Sie hatte der Lehrerin versprochen, einige Hauptbücher aufzustöbern, die angeblich verschwunden waren. Zuletzt hatte man sie in einem unbenutzten Büro nahe der Kirche gesehen. Dort begann Gabriella ihre Suche. Sie beugte sich gerade über eine Kiste voller Bücher, als sie Schritte im Flur hörte. Jemand ging an der offenen Tür vorbei und kehrte wenige Sekunden später zurück. Da sie nichts Verbotenes tat, ignorierte sie die Person und inspizierte der Reihe nach die Bücher.
Eine der Nonnen konnte es nicht sein, denn die huschten lautlos durch die Gänge. Diese Schritte waren deutlich zu vernehmen – die Schritte eines Mannes, was Gabriella sicher sofort aufgefallen wäre, hätte sie darüber nachgedacht.
Mit wachsendem Unbehagen spürte sie, dass sie beobachtet wurde. Schließlich unterbrach sie ihre Tätigkeit und drehte sich um. Zu
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