Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
hallte unentwegt in ihrer Fantasie wider, als sie zu den anderen Postulantinnen zurückkehrte. Um ihre Lippen spielte ein Lächeln, das niemand bemerkte oder richtig deutete – niemand außer Schwester Anne, die sie forschend musterte.
12
Am nächsten Morgen stellte sich Gabriella vor dem Beichtstuhl an. Die anderen sahen noch ziemlich müde aus, aber sie war hellwach. Seit drei Uhr hatte sie keinen Schlaf mehr gefunden und überlegt, ob sie das Glück des vergangenen Tages nur geträumt hatte oder ob Joe inzwischen zur Vernunft gekommen war und sie nie wieder sehen wollte. Alles erschien ihr möglich. Ängstlich betrat sie den Beichtstuhl, nachdem eine der ältesten Nonnen des Klosters herausgekommen war, und sprach die vertrauten einleitenden Worte ihrer Beichte. Wenigstens spendete ihr dieses gewohnte Ritual einen gewissen Trost.
Joe erkannte ihre Stimme sofort. Voller Sehnsucht hatte er auf sie gewartet. Nun öffnete er wortlos das Gitter. Im Halbdunkel sah sie die verschwommenen Konturen seines Gesichts. »Gabbie, ich liebe dich«, flüsterte er fast unhörbar, und sie seufzte erleichtert.
»Und ich hatte befürchtet, du würdest dich anders besinnen«, erwiderte sie ebenso leise.
»Das Gleiche dachte ich von dir«, gestand er und küsste sie durch das winzige Fenster. Nach einem kurzen Schweigen fragte er, ob sie sich außerhalb des Klosters treffen könnten.
»Vielleicht. Morgen wird die Post weggebracht. Normalerweise erledigt das eine ältere Schwester. Ich werde ihr anbieten, diese Aufgabe zu übernehmen. Ein paar Mal habe ich's schon für Mutter Gregoria getan. Leider wird sich erst in letzter Minute herausstellen, ob's klappt.«
»Ruf mich in der St. Stephen's School an. Sag ihnen, du wärst die Sprechstundenhilfe meines Zahnarzts und müsstest einen Termin absagen. Wann gehst du zu welchem Postamt?« Nachdem sie die Frage beantwortet hatte, versprach er, sobald sie sich telefonisch gemeldet habe, würde er den Treffpunkt aufsuchen.
»Und wenn du nicht in der Schule bist?«
»Keine Bange, ich werde da sein. Seit einiger Zeit muss ich eine Menge Papierkram aufarbeiten oder Gemeindemitglieder in der Direktion empfangen. Ich kann jederzeit verschwinden. Tu dein Bestes.«
»Natürlich – ich liebe dich.«
»Ich dich auch.« Weder Joe noch Gabriella wurde von Skrupeln geplagt. Selbst wenn ihnen nur ein kurzes Glück vergönnt war, würden sie beisammenbleiben und jeden noch so hohen Preis dafür zahlen. Letzte Nacht, nach der schicksalhaften Begegnung im abgeschiedenen kleinen Büro, hatten sie beide kaum geschlafen und erkannt, dass sie trotz aller Gefahren richtig handelten. »Sag so viele Ave-Marias, wie du willst. Und schließ mich in deine Gebete ein. Jetzt brauchen wir Gottes Hilfe.«
»Wenn's irgendwie möglich ist, sehen wir uns morgen.« Den Kopf gesenkt, mit ernster Miene, verließ sie den Beichtstuhl und hoffte, niemand würde die Freude sehen, die zweifellos aus ihren Augen strahlte. Glücklicherweise war die Oberin am Vorabend sehr beschäftigt gewesen und hatte beim Dinner nicht mit ihr gesprochen. Gabriella hoffte, sie müsste ihr vorerst nicht gegenübertreten, denn Mutter Gregoria würde ihr das Geheimnis anmerken.
Während Joe die Messe las, beobachtete sie ihn. Jetzt wirkte er ganz anders auf sie als zuvor – nicht mehr so fern, nicht mehr so mystisch, sondern wie ein Mann aus Fleisch und Blut. Diese Erkenntnis erschreckte sie ein wenig. Wenn sie intensiv daran dachte, rann ein seltsamer Schauer über ihren Rücken. Aber sie wusste, dass es kein Zurück gab, und sie wollte auch gar nichts ungeschehen machen. Immer würde sie sich nach seinen Küssen sehnen, nach seinen starken Armen.
Zusammen mit ihren Mitschülerinnen verließ sie die Kirche und sehnte die Arbeit im Garten herbei. Dort war sie vor neugierigen Blicken sicher. Nach dem Frühstück erklärte sie Schwester Emanuel, sie würde gern einmal die Post wegbringen. Dafür könne sie Zeit erübrigen, denn im Augenblick gebe es im Garten nicht viel zu tun.
»Oh, das ist sehr nett von dir, Schwester Bernadette. Heute und morgen werden wir keine Post abschicken. Vielleicht ein andermal.«
Letzten Endes war die ganze Woche eine bittere Enttäuschung. Gabriella fand keinen Vorwand, um das Kloster zu verlassen. Immerhin traf sie Joe zwei Mal in dem unbenutzten Büro. Beide wussten, welches Risiko sie eingingen. Inzwischen hatte sie die restlichen Hauptbücher gefunden, versteckte sie jedoch, weil sie noch öfter hierher
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