Der lange Weg zur Freiheit
schwarz, doch auch über 300 Inder, 200 Farbige und 100 Weiße nahmen am Kongreß teil.
Ich fuhr zusammen mit Walter nach Kliptown. Wir standen beide unter Bann, und so suchten wir uns einen Platz am Rande der Menge, von wo wir beobachten konnten, ohne einbezogen oder gesehen zu werden. Die Menge war eindrucksvoll, sowohl wegen ihrer Zahl als auch wegen ihrer Disziplin. »Freiheits-Freiwillige« mit schwarzen, grünen und gelben Armbinden sorgten für Sitzplätze. Alte und junge Frauen trugen Kongreßröcke und Kongreßblusen; alte und junge Männer Kongreßarmbinden und Kongreßhüte. Überall sah man Schilder, auf denen zu lesen stand: »Freiheit zu unseren Lebzeiten, lang lebe der Kampf«. Das Podium war ein Regenbogen aus Farben: weiße Delegierte vom COD, Inder vom SAIC, farbige Vertreter der SAPCO – sie alle saßen vor der Nachbildung eines vierspeichigen Rades, das die vier Organisationen der Congress Alliance darstellte. Weiße und schwarze Polizisten sowie Angehörige der Special Branch (Spezialabteilung der Sicherheitskräfte) liefen unentwegt herum, schössen Fotos, machten sich Notizen und versuchten die Delegierten einzuschüchtern, freilich ohne Erfolg.
Dutzende von Reden wurden gehalten, genauso viele Lieder gesungen. Mahlzeiten wurden serviert. Die Atmosphäre war ernst und feierlich. Am Nachmittag des ersten Tages wurde die Charta laut verlesen, Abschnitt für Abschnitt, in Englisch, Sesotho und Xhosa. Nach jedem Abschnitt äußerte die Menge ihre Zustimmung mit den Rufen »Afrika!« und »Mayibuye!« Der erste Kongreßtag war ein Erfolg.
Der zweite war wie der erste. Jeder Abschnitt der Charta war per Akklamation angenommen worden, und als um halb vier die Schlußabstimmung stattfinden sollte, stürmte ein Trupp Polizisten und Sicherheitsbeamte mit gezogenen Waffen auf das Podium. Einer der Polizisten nahm das Mikrofon und erklärte mit rauher Afrikander-Stimme, es bestehe Verdacht auf Hochverrat, niemand dürfe ohne polizeiliche Erlaubnis die Versammlung verlassen. Jetzt begannen die Polizisten die Menschen vom Podium zu stoßen und Dokumente und Fotografien zu beschlagnahmen, sogar die Schilder, auf denen stand: »Suppe mit Fleisch« und »Suppe ohne Fleisch«. Eine Gruppe von Konstablern mit Gewehren bildete um die Menge einen Kordon. Die Menschen reagierten großartig, indem sie »Nkosi Sikelel’ iAfrika« sangen. Dann durften die Delegierten einer nach dem anderen gehen, und jeder einzelne wurde von der Polizei befragt und namentlich notiert. Zu Beginn der Polizeirazzia hatte ich mich an der Peripherie der Menge befunden, und obwohl mein Instinkt mich drängte, zu bleiben und zu helfen, sagte mir mein Verstand, daß es besser wäre zu verschwinden, statt sofort verhaftet und ins Gefängnis geworfen zu werden. Als ich nach Johannesburg zurückkehrte, wußte ich, daß diese Razzia ein Signal war für kommende, härtere Aktionen von Seiten der Regierung.
Mochte der Volkskongreß auch gewaltsam aufgelöst worden sein, die Charta wurde für den Befreiungskampf zu einem großen Richtungsweiser. Wie andere dauerhafte politische Dokumente, wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die französische Erklärung der Menschenrechte und das Kommunistische Manifest, ist die Freiheits-Charta eine Mischung aus praktischen Zielen und poetischer Sprache. Sie fordert die Abschaffung rassischer Diskriminierung und die Einführung gleicher Rechte für alle. Sie heißt alle willkommen, die für die Freiheit eintreten, um teilzunehmen an der Bildung eines demokratischen, nichtrassistischen Südafrika. Sie artikuliert die Hoffnungen und Träume der Menschen und dient als Blaupause für den Befreiungskampf und die Zukunft der Nation. In der Präambel heißt es:
Wir, die Menschen von Südafrika, erklären für unser ganzes Land und die Welt:…
Daß Südafrika allen gehört, die dort leben, Schwarze wie Weiße, und daß keine Regierung rechtmäßig Autorität beanspruchen kann, solange sie nicht auf dem Willen des Volkes beruht; daß unsere Menschen ihrer Geburtsrechte auf Land, Freiheit und Frieden beraubt worden sind durch eine Form der Regierung, die auf Unrecht und Ungleichheit gründet; daß unser Land niemals prosperieren und frei sein wird, ehe nicht all unsere Menschen in Brüderlichkeit leben und gleiche Rechte und Chancen genießen; daß nur ein demokratischer, auf dem Willen der Menschen begründeter Staat allen ihr Geburtsrecht sichern kann, ohne Ansehen von Farbe, Rasse,
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