Der lange Weg zur Freiheit
Integrität beschädigten. Studieren sollte nicht ein an Bedingungen geknüpftes Privileg, sondern ein uneingeschränktes Recht sein, argumentierten sie. Wenngleich ich dieser Meinung zustimmte, so konnte ich dennoch nicht hinnehmen, daß wir deswegen auf das Studium verzichteten. Als Freiheitskämpfer und politische Gefangene hätten wir die Pflicht, unsere Fähigkeiten zu verbessern und zu stärken, und Studium sei eine der wenigen Gelegenheiten dazu.
Die Gefangenen konnten sich entweder bei der University of South Africa (UNISA) einschreiben oder beim Rapid Results College, das für Studenten bestimmt war, die ihre High-School-Reife erlangen wollten. In meinem Fall war das Studium unter den Auspizien der University of London ein geteiltes Vergnügen. Auf der einen Seite erhielt ich jene Art von Büchern, die nicht auf einer südafrikanischen Lektüreliste standen; auf der anderen Seite hielten die Behörden viele dieser Bücher zwangsläufig für unpassend und verboten sie folglich.
Der Empfang von Büchern war häufig ein Abenteuer. Angenommen, man forderte bei einer südafrikanischen Bibliothek ein Buch über Vertragsrecht an. Die Bibliothek würde den Auftrag bearbeiten und das Buch per Post zuschicken. Doch wegen der Unwägbarkeiten der Postzustellung und der häufig absichtlichen Säumigkeit des Zensors würde das Buch erst nach dem Datum eintreffen, an dem es zurückgeschickt werden müßte. Wenn das Datum verstrichen war, schickten die Aufseher es in der Regel zurück, ohne es einem auch nur gezeigt zu haben. Bei der Natur des Postsystems konnte man eine Gebühr für verspätete Rücksendung erhalten, ohne das Buch je erhalten zu haben.
Außer Büchern konnten wir auch die für unser Studium notwendigen Publikationen bestellen. Doch in dieser Hinsicht waren die Behörden äußerst streng, und die einzige Art von Publikation, die als tauglich durchgehen würde, wäre eine Vierteljahresschrift für Statistik, die ein Student benötigt, der sich Kenntnisse des Rechnungswesens aneignen möchte. Doch eines Tages erklärte Mac Maharaj einem Kameraden, der Wirtschaftswissenschaften studierte, er solle die Zeitschrift The Economist anfordern. Wir lachten und meinten, er könne genausogut die Zeitschrift Time verlangen, denn The Economist sei ebenfalls ein Nachrichtenmagazin. Doch Mac grinste nur und erklärte, die Behörden wüßten das nicht; sie würden ein Buch nach seinem Titel beurteilen. Innerhalb eines Monats erhielten wir The Economist und verschlangen die Nachrichten, nach denen wir hungerten. Doch die Behörden entdeckten ihren Fehler schon bald und kündigten das Abonnement.
Sobald die meisten Männer zu studieren anfingen, beschwerten wir uns darüber, daß wir nicht einmal das mindeste an Gerätschaften hätten, das für das Studium notwendig sei, wie etwa Tische und Stühle. Diese Beschwerde übermittelte ich dem Internationalen Roten Kreuz. Schließlich brachten die Behörden in jeder Zelle eine Art Stehpult an, ein simples Holzbrett, das in Brusthöhe aus der Wand ragte.
Das war nicht gerade das, was wir uns vorgestellt hatten. Nach einem mühseligen Tag im Steinbruch war einem nicht danach, an einem Stehpult zu arbeiten. Einige von uns beschwerten sich über die Tische, und Kathy am allerlautesten. Er teilte dem leitenden Offizier mit, es sei nicht nur eine Zumutung, an Stehpulten zu arbeiten, sondern die Arbeitsfläche fiele auch noch so steil ab, daß die Bücher zu Boden klatschten. Der Offizier stattete Kathys Zelle einen überraschenden Besuch ab, verlangte nach einem Buch und knallte es auf den Tisch. Es bewegte sich nicht. Er forderte von Kathy ein weiteres Buch und legte es auf das erste; wieder geschah nichts. Nachdem er schließlich vier Bücher auf dem Tisch aufgebaut hatte, wandte er sich Kathy zu und konstatierte: »He, mit den Tischen ist alles in Ordnung«, und marschierte nach draußen. Doch sechs Monate später hatten die Behörden ein Einsehen, wir erhielten dreibeinige Holzstühle, und die Stehpulte wurden niedriger angebracht.
Eine Klage, die ich dem Internationalen Roten Kreuz vortrug, betraf die willkürliche Art und Weise, wie die Wärter uns beschuldigten. »Beschuldigt« zu werden bedeutete, daß ein Wärter behaupten konnte, ein Gefangener habe gegen eine besondere Anordnung verstoßen, und das konnte durch Einzelhaft oder Entzug von Mahlzeiten oder Privilegien bestraft werden. Die Aufseher behandelten im allgemeinen solche Angelegenheiten nicht leichtfertig,
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