Der lange Weg zur Freiheit
gerufen, wo mir der Commander höflich mitteilte, der Fall sei untersucht und ad acta gelegt worden. »Das ist eine Verletzung der Vorschriften«, sagte ich. »Der Fall gehört vor Gericht.«
»Nein«, sagte er, »wir haben mit dem angeblichen Kläger gesprochen, und er bestreitet, jemals geschlagen worden zu sein.«
»Das ist unmöglich«, sagte ich. »Ich habe ja erst gestern mit ihm gesprochen.« Der Commander gab einem Lieutenant ein Zeichen und erklärte dann: »Dann sehen Sie doch selbst.« Der Lieutenant führte Bogart herein. Sein Gesicht war von Bandagen bedeckt. Der Commander fragte ihn, ob er geschlagen worden sei. »Nein, Baas«, sagte er ruhig, ohne mich anzusehen. »Ich bin niemals geschlagen worden.« Er wurde wieder hinausgeführt.
»Nun, Mandela«, erklärte der Commander. »Der Fall ist abgeschlossen.« Es war dem Commander gelungen, mich zu demütigen. Offensichtlich hatte er Bogart mit Lebensmitteln und Tabak bestochen, seine Beschuldigungen fallenzulassen. Von diesem Zeitpunkt an verlangte ich eine handschriftliche und unterzeichnete Erklärung des betreffenden Gefangenen, bevor ich mich bereit erklärte, den Fall zu übernehmen.
Eines Tages im Sommer 1965 entdeckten wir auf unserer Hafergrütze zum Frühstück ein leichtes fettes Glitzern und in unserem Mittagspapp einige Brocken frisches Fleisch. Am nächsten Tag konnten einige Männer frische Hemden in Empfang nehmen. Das Wachpersonal im Steinbruch und die Wärter in unserem Zellenblock erschienen ein wenig rücksichtsvoller. Wir waren alle argwöhnisch; im Gefängnis geschieht keine Verbesserung ohne Grund. Einen Tag später wurde uns mitgeteilt, das Internationale Rote Kreuz werde am folgenden Tag eintreffen.
Das war ein wichtiges Ereignis, wichtiger als alle früheren Besuche im Gefängnis. Das Rote Kreuz war vertrauenswürdig und unabhängig, eine internationale Organisation, die bei den westlichen Mächten und bei den Vereinten Nationen Aufmerksamkeit genoß. Die Gefängnisbehörden respektierten das Rote Kreuz – und mit respektierten meine ich fürchteten, denn die Behörden respektierten nur, was sie fürchteten. Die Gefängnisaufsicht mißtraute allen Organisationen, die auf die Weltmeinung Einfluß nehmen konnten, und sahen sie nicht als legitime Nachforscher an, mit denen man ehrlich umzugehen habe, sondern als unverschämte Eindringlinge, die möglichst hinters Licht geführt werden sollten. Vorrangiges Ziel der Behörden war die Vermeidung internationaler Verurteilung.
In jenen frühen Jahren war das Internationale Rote Kreuz die einzige Organisation, die sich unsere Beschwerden anhörte und auf sie reagierte. Das war lebenswichtig, denn die Behörden ignorierten uns. Nach den Vorschriften hatten die Behörden für ein offizielles Verfahren zur Entgegennahme unserer Beschwerden zu sorgen. Das taten sie zwar, aber in höchst oberflächlicher Weise. Jeden Sonntagmorgen erschien der Oberaufseher in unserem Block und brüllte: »Klagtes and Versoeke! Klagtes and Versoeke!« (»Beschwerden und Wünsche! Beschwerden und Wünsche!« ) Jene von uns mit »Klagte« und »Versoeke« – und das waren fast alle – stellten sich in einer Reihe auf, um den Oberaufseher zu sprechen. Einer nach dem anderen trug formelle Beschwerden über Essen, Kleidung oder Besuch vor. Jedem nickte der Oberaufseher zu und sagte nur: »Ja, ja«, und dann: »Der Nächste!« Er schrieb sich nicht einmal auf, was wir ihm erklärten. Wenn wir versuchten, für unsere Organisation zu sprechen, brüllten die Aufseher: »Kein ANC oder PAC hier! Verstaan?« (»Verstanden?«)
Kurz vor dem Besuch des Roten Kreuzes hatten wir dem Gefängnisdirektor eine formelle Liste mit Beschwerden einzureichen. Zu jener Zeit waren uns nur Papier und Bleistift zum Briefeschreiben gestattet. Wir hatten uns im Steinbruch und im Waschraum untereinander beraten und eine Liste zusammengestellt. Wir händigten sie dem Oberaufseher aus, der sie nicht in Empfang nehmen wollte und uns beschuldigte, wir hätten durch das Zusammenstellen einer solchen Liste gegen die Vorschriften verstoßen. Eine der Beschwerden, die wir dem Roten Kreuz übermitteln wollten, sollte zum Inhalt haben, daß die Behörden unsere Beschwerden nicht entgegennähmen.
Am Tag des Besuchs wurde ich ins Direktionsbüro gerufen, um mit dem Vertreter des Roten Kreuzes zu sprechen. In jenem Jahr und in den folgenden war dieser Vertreter ein gewisser Mr. Senn, ein früherer Gefängnisdirektor in seinem Heimatland
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