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Der lange Weg zur Freiheit

Der lange Weg zur Freiheit

Titel: Der lange Weg zur Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelson Mandela
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war. Winnie teilte mir mit, es handle sich um ein Mikrofon.
    Als ich mitten in der Menge war, hob ich die rechte Faust, und Jubel brauste auf. Das hatte ich 27 Jahre lang nicht tun können, und mich durchströmten Kraft und Freude. Wir blieben nur ein paar Minuten unter der Menschenmenge, ehe wir wieder in den Wagen sprangen und nach Kapstadt fuhren. Obwohl ich mich über diesen Empfang freute, war ich überaus bekümmert, daß ich mich nicht vom Gefängnispersonal hatte verabschieden können. Als ich endlich durch das Tor schritt, um auf der anderen Seite ein Auto zu besteigen, hatte ich trotz meiner 71 Jahre das Gefühl, ein neues Leben zu beginnen. Die 10000 Tage meiner Gefangenschaft waren vorüber.
    Kapstadt lag 50 Kilometer südwestlich, doch wegen der unerwarteten Menschenmenge am Tor entschied sich der Fahrer dafür, einen anderen Weg in die Stadt einzuschlagen. Wir fuhren um die Rückseite des Gefängnisses herum zurück, und unser kleiner Konvoi nahm kleine Straßen und Nebenstrecken in die Stadt. Wir passierten wunderschöne grüne Weinberge und gepflegte Farmen, und ich genoß die Szenerie, die mich umgab.
    Die Landschaft war üppig und kultiviert, aber was mich überraschte, waren die vielen weißen Familien, die am Straßenrand standen, um einen Blick auf unsere Kolonne zu erhaschen. Sie hatten im Radio gehört, daß wir eine andere Strecke fahren würden. Einige, vielleicht ein Dutzend, hoben sogar die geballte rechte Faust, was zum Machtgruß des ANC geworden war. Das erstaunte mich. Diese paar braven Seelen aus einer konservativen ländlichen Gegend, die ihre Solidarität ausdrückten, machten mir Mut. Einmal ließ ich anhalten und stieg aus dem Wagen, um einer solchen weißen Familie zu danken und zu sagen, wie sehr mich ihre Unterstützung ermutigte. Mir kam der Gedanke, daß das Südafrika, in das ich zurückkehrte, sich sehr von dem unterschied, das ich einst verlassen hatte.
    Als wir die Außenbezirke der Stadt erreichten, sah ich Menschen, die ins Zentrum strömten. Das Empfangskomitee hatte eine Versammlung am Grande Parade in Kapstadt organisiert, einem großen offenen Karree, das sich vor dem alten Rathaus erstreckte. Vom Balkon dieses Gebäudes aus, wo man den ganzen Platz überblicken konnte, würde ich zu den Leuten sprechen. Wir hörten kurze Berichte von einer Flut von Menschen, die dort seit dem Morgen warteten. Geplant war, daß unsere Wagenkolonne der Menge ausweichen und von der Rückseite her das Rathaus ansteuern sollte, wo ich in Ruhe das Gebäude betreten sollte.
    Die Fahrt nach Kapstadt dauerte 45 Minuten, und als wir uns dem Grand Parade näherten, sahen wir eine enorme Menschenmenge. Der Fahrer sollte rechts abbiegen und sie umfahren, doch statt dessen steuerte er unerklärlicherweise mitten in die Menschenmenge hinein. Sofort eilten die Leute herbei und umringten den Wagen. Ein oder zwei Minuten lang kamen wir noch zentimeterweise vorwärts, doch dann mußten wir wegen des Drucks der vielen Leiber anhalten. Die Menschen fingen an, an die Fenster und dann an den Kofferraum und auf das Dach des Wagens zu klopfen. Von innen hörte sich das an wie ein schwerer Hagelsturm. Dann begannen die Leute in ihrer Erregung, auf den Wagen zu springen. Andere rüttelten ihn, und in diesem Augenblick fing ich an, mir Sorgen zu machen. Ich hatte das Gefühl, die Menge sei vor lauter Liebe durchaus imstande, uns umzubringen.
    Der Fahrer fürchtete sich noch mehr als Winnie und ich und schrie laut, wir sollten aus dem Wagen springen. Ich bat ihn, Ruhe zu bewahren und im Auto zu bleiben. Die anderen Personen in den Wagen hinter uns würden uns schon zu Hilfe kommen. Allan Boesak und andere versuchten, einen Weg für unser Fahrzeug freizumachen und die Leute vom Wagen wegzudrängen, doch sie hatten wenig Erfolg. Mehr als eine Stunde lang saßen wir in dem Auto fest, gefangen von Tausenden unserer eigenen Anhänger – es hätte wenig Sinn gehabt, auch nur die Tür öffnen zu wollen, so viele Menschen umdrängten den Wagen. Der für die Rede angesetzte Zeitpunkt war schon lange verstrichen.
    Mehrere Dutzend Polizisten kamen uns schließlich zu Hilfe und schafften es, uns nach und nach einen Weg zu bahnen. Als wir endlich frei waren, raste der Fahrer mit großer Geschwindigkeit vom Rathaus fort. »Mann, wo fahren Sie hin?« fragte ich ihn erregt. »Ich weiß nicht«, antwortete er mit vor Angst angespannter Stimme. »So etwas habe ich noch nie erlebt«, sagte er und fuhr völlig ziellos

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