Der lange Weg zur Freiheit
Möglichkeit boten, die größte Anzahl von Menschen für den Kampf zu gewinnen.
Vor der Kampagne redete der ANC mehr, als daß er handelte.
Wir hatten keine bezahlten Organisatoren, keinen Mitarbeiterstab und Mitglieder, die für unsere Sache kaum mehr als Lippenbekenntnisse leisteten. Infolge der Kampagne stieg die Mitgliederzahl auf 100000 an. Der ANC ging aus der Kampagne hervor als Organisation mit echter Massenbasis und einer eindrucksvollen Truppe erfahrener Aktivisten, die der Polizei, den Gerichten und Gefängnissen widerstanden hatten. Das Stigma, das gewöhnlich mit Gefängnishaft verbunden ist, war beseitigt. Das war ein wichtiger Fortschritt, denn Angst vor Inhaftierung ist ein schreckliches Hindernis für jeden Freiheitskampf. Seit der Mißachtungskampagne galt es als ehrenhafte Auszeichnung, ins Gefängnis zu gehen.
Wir waren überaus stolz darauf, daß es während der halbjährigen Kampagne auf unserer Seite keinen einzigen Akt von Gewalt gegeben hatte. Die Disziplin unserer Widerständler war vorbildlich. Während der Endphase der Kampagne brachen in Port Elizabeth und East London Unruhen aus, bei denen mehr als 40 Menschen getötet wurden. Obwohl diese Ereignisse mit der Kampagne nicht das geringste zu tun hatten, versuchte die Regierung, sie uns anzulasten, und hatte Erfolg damit, denn die Unruhen trübten die Ansichten mancher Weißer, die vielleicht sonst mit uns sympathisiert hätten.
Innerhalb des ANC waren auch völlig unrealistische Erwartungen anzutreffen. Die sie hegten, waren davon überzeugt, daß die Kampagne zum Sturz der Regierung führen könne. Wir erinnerten sie daran, Ziel der Kampagne sei, Aufmerksamkeit auf unsere Notlage zu richten, nicht aber alle unsere Probleme zu beseitigen. Sie hielten uns entgegen, die Regierung sei jetzt dort, wo wir sie hätten haben wollen, und wir sollten die Kampagne auf unbegrenzte Zeit fortsetzen. Hier mischte ich mich ein und erklärte, diese Regierung sei zu stark und zu rücksichtslos, um auf eine solche Weise zu Fall gebracht zu werden. Wir könnten sie in Verlegenheit bringen, doch ihr Sturz als Folge der Mißachtungskampagne sei unmöglich.
In der Tat setzten wir die Kampagne zu lange fort. Wir hätten auf Dr. Xuma hören sollen. Gegen Ende der Kampagne traf sich das Planungskomitee mit Dr. Xuma, der uns erklärte, die Kampagne werde bald an Schwung verlieren und es wäre klug, sie abzubrechen, bevor sie völlig in sich zusammenfalle. Die Kampagne zu beenden, während sie sich noch in der Offensive befinde, wäre ein kluger Schachzug und würde Schlagzeilen machen. Dr. Xuma hatte recht, denn die Kampagne erlahmte schon bald, doch in unserem Enthusiasmus und in unserer Arroganz wischten wir Dr. Xumas Ratschlag beiseite. Mein Herz wünschte, daß die Kampagne fortgesetzt werde, doch mein Kopf sagte mir, wir sollten sie beenden. Ich sprach mich für den Abbruch aus, fügte mich jedoch der Mehrheit. Gegen Ende des Jahres lief die Kampagne aus.
An der Kampagne beteiligten sich nie mehr als die anfänglich kleinen Gruppen hauptsächlich städtischer Widerständler. Massenbeteiligung wurde vor allem in den ländlichen Gebieten niemals erreicht. Das östliche Kap war die einzige Region, in der es uns gelang, das zweite Stadium des Widerstands zu erreichen; dort bildete sich auf dem Lande eine starke Widerstandsbewegung. Im allgemeinen mißlang uns die Eroberung ländlicher Gebiete, eine historische Schwäche des ANC. Die Kampagne litt unter der Tatsache, daß wir keine ganztags tätigen Organisatoren hatten. Ich versuchte gleichzeitig, die Kampagne zu organisieren und meine Rechtsanwaltspraxis zu betreiben, und das ist nicht die richtige Art und Weise, eine Massenkampagne aufzuziehen. Wir waren noch Amateure.
Nichtsdestoweniger hatte ich ein starkes Gefühl des Erfolgs und der Zufriedenheit: Ich war für eine gerechte Sache eingetreten, für die zu kämpfen und die zu gewinnen ich die Kraft besaß. Die Kampagne befreite mich von allen vagen Zweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen, die ich noch verspürt haben mochte; sie befreite mich von dem Gefühl, von der Macht und der scheinbaren Unbesiegbarkeit des weißen Mannes und seiner Institutionen überwältigt zu werden. Denn jetzt hatte der weiße Mann die Kraft meiner Schläge zu spüren bekommen, und jetzt konnte ich aufrecht gehen wie ein Mann und jedem ins Auge blicken mit der Würde dessen, der sich der Unterdrückung und der Angst nicht ergeben hat. Als Freiheitskämpfer war ich in die
Weitere Kostenlose Bücher