Der langsame Walzer der Schildkroeten
würde bedeuten, vor ihnen auf die Knie zu gehen.
Plötzlich hörte sie Carlos. Der Kerl musste immer Lärm machen, brüllen, um sich anzukündigen. Dann war er da. Im Bad. Um sie herum nur Weiß. Nicht ein farbiges Detail, an dem sie sich festklammern könnte, von dem etwas Widerstand ausgehen könnte. Der Mann war ein Würfel. Ein Meter fünfundfünfzig hoch und genauso breit. Ein kahler, fetter Würfel. Ein echter Gnom. Fehlten nur noch die Haare auf der Nase, der Schlabberhals und die spitzen Ohren. Wobei, wenn man genauer hinsah, konnte man immerhin die Haare auf seiner Nase zählen.
Seine breite Gestalt verdeckte die Deckenleuchte aus mattiertem Glas. Er tauchte den ganzen Raum in Schatten. Angesichts der Gewalt, die er ausstrahlte, vergaß sie alles. Sie konnte ihm nicht einmal in die Augen sehen, so drohend funkelten sie vor Wut. Wenn sie überhaupt noch einen Funken Selbstbeherrschung bewahren wollte, tat sie besser daran, den Duschvorhang anzustarren. Weiß, ganz weiß, wie das wattige Weiß, das in ihr hochkroch und sie erstickte. Auch die Wände waren weiß. Der Spiegel, das kleine Fenster, der Hängeschrank über dem Waschbecken. Weiß das Waschbecken. Die Badewanne, weiß. Der Badvorleger, auch weiß.
Er streckte einen Arm aus, löste seinen Gürtel, befahl ihr, die Jeans auszuziehen.
»Davon träumen Sie wohl!«, versetzte Hortense und biss die Zähne zusammen, um das ganze Weiß zurückzudrängen, das ihr den Atem raubte.
»Jeans runter, oder ich hol das Rasiermesser …«
Sie dachte hastig nach. Wenn sie die Hose runterzog, würde er das Rasiermesser eben später rausholen. Dann wäre sie in null Komma nichts erledigt.
»Im Leben nicht«, antwortete sie und hielt krampfhaft nach einem farbigen Detail in diesem Badezimmer Ausschau.
Er legte den Gürtel auf den Rand der Badewanne, öffnete das Arzneischränkchen und nahm ein Rasiermesser heraus. Ein schwarzes Klappmesser mit langer Klinge. Das Rasiermesser eines alten Mafioso, wie es Marlon Brando im Paten benutzt.
Sie klammerte sich an die Szene, spulte sie vor ihrem geistigen Auge ab. Sein Kinn ist ganz weiß, er fährt mit der Klinge darüber, verzieht dabei das Gesicht zu einer schlaffen, grausamen Miene. Sie konnte sich nicht an Marlon Brando klammern, um das durchzustehen. Nicht vertrauenswürdig.
»Sie glauben doch nicht, ich hätte Angst …«, sagte sie und bemerkte ein zusammengerolltes gelbes Handtuch in der Badewanne.
»Von Rot zu Grün stirbt alles Gelb.« Apollinaire. Ihre Mutter hatte ihnen diesen Vers beigebracht, als sie noch klein waren. Ihre Mutter, die ihnen die Geschichte der Farben erzählte. Blau, Grün, Gelb, Rot, Schwarz, Violett … Sie hatte das vor nicht allzu langer Zeit für eine Hausarbeit zum Thema »Harmonie und Farben« verwenden können. Sie hatte die beste Note bekommen. Gute Allgemeinbildung, hatte der Dozent gesagt. Interessante Verweise, die die Aussage vertiefen. Im Geiste hatte sie sich bei ihrer Mutter bedankt, beim zwölften Jahrhundert und bei Apollinaire, und hatte Abbitte dafür geleistet, dass sie sich so oft über all das lustig gemacht hatte.
Die Angst wich gut zehn Zentimeter zurück. Wenn sie noch ein weiteres farbiges Detail fand, war sie gerettet.
»Agathe, komm her und sieh dir das an …«, brüllte der Würfel.
Agathe kam herein, die Schultern zusammengezogen, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Klebrig vor Angst. Hortense suchte ihren Blick, aber sie wand sich wie ein Aal.
»Zeig ihr deinen Zeh!«, bellte der Würfel.
Agathe lehnte sich an die weiße Badezimmerwand, öffnete das Riemchen an ihrem Pumps und präsentierte den Stummel eines kleinen Zehs. Ein winziges, verschrumpeltes Ding, das direkt über dem Ansatz abgetrennt worden sein musste. Es sah ekelerregend aus: ein violettes, von Rot durchzogenes Stück Fleisch. Kein Nagel mehr, dafür Rot. Billiges Rotweinrot, verkrümmtes Rot, aber Rot!
»Du kannst wieder einpacken! Verzieh dich!«
Agathe verschwand, wie sie gekommen war: dicht an der Wand entlang.
Hortense hörte sie hinter der Tür stöhnen.
»Hast du kapiert, wie Mädchen hier gehorchen?«
»Ich bin kein Mädchen. Ich bin Hortense. Hortense Cortès. Und Sie können mich mal!«
»Hast du’s kapiert, oder soll ich dir noch ein Bild malen?«
»Malen Sie ruhig. Ich werde Sie anzeigen. Ich gehe zur Polizei. Sie haben ja nicht die leiseste Ahnung, was für einen Ärger Sie sich gerade einhandeln!«
»Ich kenn auch Leute, Kleines. Vielleicht nicht ganz sauber,
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