Der langsame Walzer der Schildkroeten
härtestes Erz!«
»Seit wann sprichst du denn in Reimen?«, fragte Josiane, während sie einen großen Teller auf das weißleinene Tischset stellte. »Kommen als Nächstes die Alexandriner, Racine?«
»Das ist das Glück, Choupette. Es macht mich poetisch, beschwingt, sogar schön. Findest du nicht auch, dass ich richtig schön geworden bin? Auf der Straße drehen sich die Frauen nach mir um und knabbern mit Blicken an mir. Ich lach drüber, sag nichts, aber innen drin freu ich mich wie ein Schneekönig …«
»Die gucken doch nur, weil du allein vor dich hin brabbelst!«
»Nein, Choupette, nicht doch! Deine Liebe verwandelt mich in eine strahlende Sonne. Sie wollen sich an mir reiben, um sich aufzuwärmen. Sieh mich nur an: Seit wir zusammenwohnen, werde ich immer schöner, immer jünger, ich strahle, ich bekomme sogar Muskeln!«
Er klopfte sich auf den eingezogenen Bauch und drückte Beifall heischend den Rücken gegen die Stuhllehne.
»Pff! Werd mir jetzt nicht sentimental, Marcel Grobz … und trink endlich deinen Orangensaft, sonst verdunsten die ganzen Vitamine, und du musst sie dir aus der Luft rausfischen.«
»Ich mein das ernst, Choupette! Ich bin so glücklich … Wenn ich mich nicht zusammenreiße, heb ich noch ab!«
Er verknotete die große Serviette im Nacken, um sein weißes Hemd nicht zu bekleckern, und fuhr mit vollem Mund fort: »Und was macht unser Stammhalter? Hat er gut geschlafen?«
»Er ist um acht Uhr aufgewacht, ich habe ihn gewickelt und gefüttert, und dann ab zurück ins Bett. Er schläft noch, und wehe, du gehst rüber und weckst ihn auf!«
»Nur ein klitzekleines Küsschen auf die rechten Zehenspitzen …«, bettelte Marcel.
»Ich kenn dich doch. Du wirst dein Maul weit aufsperren und ihn mit Haut und Haar verschlingen!«
»Aber das gefällt ihm doch so gut. Er gurrt vor Freude auf dem Wickeltisch. Gestern hab ich ihn dreimal gewickelt. Und mit Mitosyl eingeschmiert. Mein Gott, hat der Kleine Eier! Wie ein wilder Stier! Mein Sohn wird ein hungriger Wolf, eine Lanze, die sich ins Herz aller Mädchen bohrt – und nicht nur dahin!«
Er lachte dröhnend und rieb sich die Hände beim Gedanken an diese künftige Urgewalt.
»Aber jetzt schläft er noch, und du hast einen Termin im Büro.«
»An einem Samstag, stell dir das mal vor! Will der Kerl doch tatsächlich einen Termin am Samstagmorgen, und das in aller Herrgottsfrühe!«
»Von welcher Herrgottsfrühe redest du? Es ist schon Mittag!«
»So lange haben wir geschlafen?«
»So lange hast du geschlafen!«
»Wir haben es gestern bei René und Ginette ja auch ganz schön krachen lassen! Mein Gott, was haben wir da weggetrunken! Und Junior hat geschlafen wie ein Murmeltier! Ach bitte, Choupette … lass mich ihn wenigstens kurz abknutschen, ehe ich los muss …«
Marcel Grobz’ Gesicht verzog sich zu einem bebenden Flehen, er faltete die Hände und mimte den glühenden Kommunikanten, doch Josiane Lambert blieb hart.
»Babys brauchen ihren Schlaf. Vor allem, wenn sie erst sieben Monate alt sind!«
»Aber bei dem könnte man glatt meinen, er wäre ein Jahr älter! Hast du gesehen? Er hat schon vier Zähne, und wenn ich mit ihm rede, versteht er jedes Wort. Vor ein paar Tagen erst hab ich darüber nachgedacht, ob ich eine neue Fabrik in China eröffnen soll, ich hab laut vor mich hin gedacht und geglaubt, er wäre vollauf damit beschäftigt, mit seinen Füßen zu spielen – hast du übrigens gesehen, wie er seine Füßchen knetet, ich wette mit dir, er lernt zählen! Wie auch immer, er hat sein süßes, kleines Frätzchen gehoben und genickt! Zweimal hintereinander! Ich schwör dir, Choupette, er hat Ja gesagt, mach schon, na los. Ich dachte schon, ich spinne.«
»Und wie du spinnst, Marcel Grobz. Du drehst noch komplett durch.«
»Ich glaube sogar, er hat go, daddy, go gesagt! Er spricht nämlich auch Englisch. Wusstest du das?«
»Mit sieben Monaten!«
»Genau!«
»Weil du ihn mit Assimil-Kursen ins Bett bringst? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass das funktioniert? Ich mache mir Sorgen um dich, Marcel, so langsam mache ich mir wirklich Sorgen.«
Jeden Abend, wenn Marcel Grobz seinen Sohn ins Bett brachte, startete er eine Englisch- CD , die er in der Rue de Rivoli gekauft hatte. Er legte sich neben der Wiege auf den Teppichboden, zog die Schuhe aus, schob sich ein Kissen in den Nacken und wiederholte im Dunkeln die Sätze aus Lektion 1. My name is Marcel, what’s your name? I live in Paris, where do you live? I
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