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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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Paris.«
    Verblüfft starrte sie ihn an. Er war schon wieder bei seiner eigenen Geschichte. Er hatte nur kurz innegehalten, um ihr zuzuhören, und sich dann sofort wieder seinen eigenen Problemen zugewandt. Ist das mein Geliebter, mein Traummann? Der Mann, der ein Buch über die Geschichte der Tränen schreibt, der Jules Michelet zitiert: »Kostbare Tränen flossen in klaren Legenden, in wunderbaren Gedichten, türmten sich auf in den Himmel und erstarrten zu gewaltigen Kathedralen, die sich dem Herrn entgegenreckten.« Ein vertrocknetes Herz, genau. Eine Korinthe. Er legte ihr einen Arm um die Schultern, zog sie an sich und flüsterte matt: »Joséphine, ich kann nicht die Probleme der ganzen Welt lösen. Lassen Sie uns unbeschwert bleiben, einverstanden? Ich fühle mich wohl in Ihrer Gegenwart. Sie sind das einzig Fröhliche in meinem Leben, das einzige Lachen, die einzige Zärtlichkeit. Lassen Sie uns das nicht zerstören. Bitte …«
    Joséphine nickte resigniert.
    Sie spazierten um den See, begegneten weiteren Joggern, weiteren schwimmenden Hunden, Kindern auf Fahrrädern, Vätern, die hinter ihnen herliefen, um sie im Sattel zu halten, einem schweißgebadeten dunkelhäutigen Riesen mit majestätischem Brustkorb, der halb nackt joggte. Sie spielte mit dem Gedanken, ihn zu fragen: »Und worüber wollten Sie neulich mit mir reden, als wir uns in der Brasserie verabredet hatten? Es schien wichtig zu sein«, und ließ es dann doch bleiben.
    Es kam ihr vor, als wünschte sich Luca nichts sehnlicher, als vor ihr zu fliehen.
    An diesem Tag begann ihre Liebe zu ihm ein wenig zu bröckeln.
    Abends suchte Joséphine Zuflucht auf ihrem Balkon.
    Als sie sich auf die Suche nach einer neuen Wohnung gemacht hatte, lautete ihre erste Frage an den Makler, noch bevor sie sich nach dem Preis, der Sonneneinstrahlung, dem Stockwerk, dem Viertel, der nächsten Métro-Station und dem Zustand des Dachs und der Regenrinnen erkundigte, stets: »Gibt es einen Balkon? Einen richtigen Balkon, auf dem ich mich hinsetzen, meine Beine ausstrecken und die Sterne sehen kann?«
    Ihre neue Wohnung hatte einen Balkon. Einen großen, schönen Balkon mit einem stattlichen schwarzen schmiedeeisernen Geländer.
    Joséphine wollte einen Balkon, um mit den Sternen zu reden.
    Um mit ihrem Vater zu reden, Lucien Plissonnier, der an einem 13. Juli gestorben war, als sie zehn Jahre alt war, als die Knallfrösche explodierten, als die Menschen tanzten, als Feuerwerke am Himmel erstrahlten und die Hunde aufheulen ließen. Ihre Mutter hatte später Marcel Grobz geheiratet, der sich als guter und großzügiger Stiefvater erwiesen hatte, was Henriette jedoch nicht davon abhielt, ihn mit größter Verachtung zu behandeln.
    Immer wenn Joséphine melancholischer Stimmung war, wartete sie, bis es dunkel wurde, wickelte sich in ein Federbett, setzte sich auf den Balkon und redete mit den Sternen.
    Alles, was sie sich nicht gesagt hatten, als er noch lebte, sagten sie einander jetzt über die Milchstraße hinweg. Natürlich, räumte Joséphine selbst ein, ist das nicht rational, natürlich könnte man mich für verrückt erklären, aber das ist mir egal. Ich weiß, dass er da ist, dass er mir zuhört, schließlich gibt er mir ja Zeichen. Wir einigen uns auf einen Stern, den ganz kleinen am Ende des Großen Wagens, und er lässt ihn heller strahlen. Oder löscht ihn aus. Es funktioniert nicht jedes Mal, das wäre zu einfach. Manchmal gibt er mir auch keine Antwort. Aber wenn ich zu ertrinken drohe, wirft er mir einen Rettungsring zu. Manchmal lässt er auch eine Glühbirne im Bad flackern, eine Fahrradleuchte auf der Straße oder eine Straßenlaterne. Er mag Leuchten.
    Sie befolgte immer das gleiche Ritual. Sie legte die Ellbogen auf die Knie und hob das Gesicht zum Himmel. Als Erstes suchte sie nach dem Großen Wagen, dann nach dem kleinen Stern am Ende der Deichsel, und dann begann sie zu reden. Jedes Mal, wenn sie nur das Wörtchen »Papa« aussprach, begannen ihre Augen zu brennen, und wenn sie »Papa! Mein liebster Papa!« sagte, kamen ihr unweigerlich die Tränen.
    An diesem Abend blickte sie forschend zum Himmel auf, entdeckte den Großen Wagen, warf ihm eine Kusshand zu und flüsterte: »Papa, Papa … ich bin traurig, so traurig, dass ich kaum atmen kann. Erst der Überfall im Park, dann Antoines Postkarte und vorhin Lucas kühle Reaktion, seine höfliche Gleichgültigkeit. Was macht man mit überschäumenden Gefühlen? Drückt man sich schlecht aus, läuft

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