Der langsame Walzer der Schildkroeten
ein Anrempeln auf der Straße oder ein Kaffee, der ihm nur lauwarm serviert wird, bedroht sein höchst fragiles Selbstbild. Das führt zu einer psychologischen Erschütterung, die er ausgleichen muss, um sich wieder mächtig zu fühlen. Jemanden zu töten verleiht ein extremes Gefühl der Macht. Man fühlt sich Gott gleich. Nachdem sie getötet haben, ist ihr Bedürfnis vorerst gestillt, doch sie spüren eine innere Leere, die sie ausfüllen müssen, und das treibt sie dazu, erneut zu töten.‹ Diese Passage hatte sie unterstrichen.«
Er verstummte und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»So eine Frau hätte ich in meinem Team gut gebrauchen können! Verstehen Sie? Sie hatte alles erfasst! In diesem Beruf muss man methodisches Vorgehen und Intuition verbinden. Eine Ermittlung beschränkt sich nicht nur auf objektive Tatsachen, man muss seine Empfindungen, seine gesamte Lebenserfahrung einbringen.«
Fast schien es, als führte er ein Selbstgespräch. Doch dann wandte er sich wieder an sie.
»Sie hat also ihre Mutter angerufen, damit die sich nach dem weiteren Verbleib ihrer Kollegin erkundigte. Und so hat sie erfahren, dass Évelyne Lamarche in der Nacht vom 1. auf den 2. August 1983 erhängt in ihrem Haus in der Nähe von Arras aufgefunden wurde.«
»Das ist doch das Datum, das der Drucker erwähnt hat! In der Nacht hat er Lefloc-Pignel, zusammen mit van den Brock, zum letzten Mal gesehen!«, rief Joséphine.
Inspecteur Garibaldi sah sie an.
»Das passt alles zusammen«, sagte er. »Lassen Sie es mich Ihnen erklären … Nach dem Tod dieser Frau wurden damals Ermittlungen eingeleitet, da sie nicht im Mindesten depressiv war. Sie war in ihr Heimatdorf in der Nähe von Arras zurückgekehrt, lebte dort allein, hatte weder Freunde noch Kinder, plante, bei den Kommunalwahlen anzutreten, und war zu einer Art Honoratiorin im Dorf geworden. Niemand traute ihr einen Selbstmord zu, und trotzdem hatte sie sich aufgehängt. Das hat den Verdacht von Capitaine Gallois bestätigt: Es war kein Selbstmord, sondern Mord. Die Rache eines ehemaligen Schützlings? Der Satz ihrer Mutter kam ihr wieder in den Sinn: ›Sie macht aus diesen Kindern tollwütige Tiere.‹ Was, wenn Évelyne Lamarche für die Demütigungen, die sie den Kindern zugefügt hatte, mit dem Leben bezahlt hatte? Ihr Verdacht konzentrierte sich auf die beiden Hervés. Sie muss sie noch einmal vorgeladen und befragt haben. Und dabei muss ihr etwas rausgerutscht sein, was sie besser für sich behalten hätte. Sie wusste zu viel. Also haben sie beschlossen, sie aus dem Weg zu räumen.«
»Hat sie denn nicht darauf geachtet, was sie ihnen sagt?«, fragte Philippe verwundert.
»Sie hatte noch zu wenig Erfahrung. Für die beiden hingegen war es nicht das erste Verbrechen, und sie waren nie erwischt worden. Sie hielten sich für unverwundbar. Wenn Sie Bücher zum Thema Serienmörder lesen, werden Sie feststellen, dass ihre Fantasiewelt die Realität immer stärker überlagert, je weiter ihre Mordserie voranschreitet. Sie verlieren die Kontrolle über ihr Leben, sie leben in einer anderen Welt, einer Welt die sie selbst erschaffen haben, mit eigenen Regeln, Gesetzen und Ritualen …«
Joséphine dachte an die Vorschriften für das rechte Eheleben an der Schlafzimmerwand der Lefloc-Pignels. Sie hatten ihr Angst gemacht, als hätte sie damals schon die Gegenwart eines kranken Geistes gespürt. Sie hätte Iris davon erzählen, sie warnen sollen. Ihre Schwester war tot … Sie konnte es einfach nicht glauben. Das war doch nicht möglich. Es waren lediglich Worte, die aus dem Mund von Inspecteur Garibaldi kamen und noch ein wenig in der Luft hingen, ehe sie sich wieder auflösen würden.
»Die Realität existiert nicht mehr, sie gehen mehr und mehr in ihrer Fantasiewelt auf. Das Einzige, was in ihren Augen noch real blieb, war ihre Verbindung: die beiden Hervés. Van den Brock tötete nicht, dazu war er zu schwach, er zog die Frauen durch den Schmutz, bedrängte sie sexuell, aber ich glaube nicht, dass er jemals wirklich aktiv geworden ist. Lefloc-Pignel hingegen tötete. Immer aus dem gleichen Grund: um sich für eine Demütigung zu rächen, wie auch immer diese ausgesehen haben mochte. Selbst wenn es in unseren Augen nur eine Kleinigkeit zu sein scheint.«
»Und das alles ist Ihnen nach dem Tod von Mademoiselle Gallois klar geworden?«, fragte Joséphine.
»Wir waren ihnen auf der Spur, aber wir stocherten noch ein wenig im Nebel. Warum hatte sie ihre Mutter
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