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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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zugrunde zu gehen als an Zucker, dachte er.
    Es war Alexandres erstes Weihnachtsfest ohne seine Mutter.
    Es war sein erstes Weihnachtsfest ohne Iris seit seiner Hochzeit.
    Ihr erstes Weihnachten als Junggesellen.
    Zwei Männer ohne das Bild der Frau, die so lange über sie geherrscht hatte. Sie hatten die Klinik schweigend verlassen. Waren die kurze, kiesbedeckte Zufahrt entlanggegangen, die Hände in den Taschen vergraben, jeder den Blick auf Fußspuren auf dem weißen Raureif gesenkt. Zwei Waisen aus einem Internat. Es hatte nicht viel gefehlt, und sie hätten einander an den Händen gefasst, aber sie hatten durchgehalten. Aufrecht und würdevoll unter ihrem Mantel aus Kummer.
    »Sechs Tote pro Minute, Philippe! Und mehr hast du dazu nicht zu sagen?« Shirleys Blick fiel auf Alexandres schlaksige Gestalt. »Du hast recht: Er hat noch Spielraum! Gut, ich bin ja schon still! Wollten wir nicht die Geschenke auspacken?«
    Alexandre schien dem funkelnden Geschenkehaufen zu seinen Füßen keine Beachtung zu schenken. Sein Blick verlor sich in der Ferne, in einem anderen Zimmer, einem düsteren, leeren Raum mit einer stummen, abgemagerten Mutter, die die Arme beharrlich vor der Brust verschränkt hielt. Nicht einmal zum Abschied hatte sie sie gelockert. »Viel Spaß«, hatte sie mit zusammengekniffenen Lippen gezischt. »Denkt mal an mich, wenn man euch Zeit und Gelegenheit dazu lässt.« Alexandre war gegangen, ohne ihr den Kuss zu geben, nach dem sie nicht verlangt hatte. Er blickte in die tanzenden Flammen und versuchte zu verstehen, warum seine Mutter so kühl war. Vielleicht hat sie mich ja nie geliebt? Vielleicht ist man gar nicht verpflichtet, sein Kind zu lieben? Dieser Gedanke brachte ihn an einen Abgrund, vor dem ihn schwindelte.
    »Joséphine«, rief Shirley, »worauf warten wir noch? Lass uns die Geschenke auspacken.«
    Joséphine klatschte in die Hände und erklärte, dass die Geschenke ausnahmsweise schon vor Mitternacht überreicht würden. Zoé und Alexandre würden abwechselnd den Weihnachtsmann spielen und in den großen, bändergeschmückten Haufen greifen. Ein Weihnachtslied erklang und breitete einen heiligen Schleier über die kaum verhüllte Traurigkeit des Abends. »Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht …« Zoé schloss die Augen und streckte aufs Geratewohl die Hand aus.
    »Für Hortense von Maman«, verkündete sie, nachdem sie einen länglichen Umschlag aus dem Stapel gezogen hatte. Sie las den kurzen Satz vor, der darauf stand: »Fröhliche Weihnachten, mein über alles geliebtes kleines Mädchen.«
    Hortense stürzte sich auf den Umschlag und öffnete ihn nervös. Eine Weihnachtskarte? Ein kurzer moralisierender Brief, in dem sie ihr erklärte, dass das Leben in London und ihre Schulgebühren teuer seien, dass das schon eine ziemliche Leistung für eine Mutter sei und dass das Weihnachtsgeschenk demzufolge nur symbolisch sein könne? Doch dann glättete plötzliche Freude Hortenses verkniffene Züge: »Gutschein für einen gemeinsamen Shoppingtag, mein Liebling.« Sie fiel ihrer Mutter um den Hals.
    »Oh! Danke, Maman! Wie hast du das erraten?«
    Ich kenne dich eben, hätte Joséphine am liebsten geantwortet. Ich weiß, dass das Einzige, was wir beide ohne Zusammenstöße oder böses Blut zusammen unternehmen können, eine fieberhafte Jagd nach Kleidern ist, bei der wir das Geld nur so zum Fenster hinauswerfen. Doch sie sagte nichts und ließ sich gerührt von ihrer Tochter küssen.
    »Wir gehen hin, wo ich will? Einen ganzen Tag lang?«, vergewisserte sich Hortense verwundert.
    Joséphine nickte. Sie hatte richtiggelegen, auch wenn die Bestätigung ihrer Vorahnung sie ein wenig traurig machte. Auf welche Weise sollte sie ihrer Tochter ihre Liebe sonst vermitteln? Wer hatte sie so gierig, so blasiert werden lassen, dass allein die Aussicht auf einen Tag, an dem sie ungehemmt Geld ausgeben könnte, ihr eine zärtliche Regung zu entlocken vermochte? War es das Leben, das ich ihr aufgezwungen habe, oder sind es die harten Zeiten, in denen wir leben? Man darf nicht immer alles auf die Zeit oder die anderen schieben. Auch ich bin verantwortlich dafür. Meine Schuldgefühle reichen bis zu jenem Tag zurück, als ich sie zum ersten Mal vernachlässigt habe, als ich sie zum ersten Mal nicht trösten, nicht verstehen konnte, ein Unvermögen, das ich mit dem Versprechen eines Geschenks, eines gemeinsamen Einkaufsbummels überspielte, ich hingerissen vom eleganten Sitz eines Kleides

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