Der langsame Walzer der Schildkroeten
ein Romantiker oder eher ein Konsument wie Hortense?«
»Es wird dich enttäuschen, Jo, aber ich stehe im Moment auf geile Schlampen. Ich eigne mir die Fertigkeiten des echten Mistkerls an …«
»Schon verstanden. Ich bin wohl wieder die einzige dumme Pute im Raum, das ist nichts Neues.«
»Ach was! Tu doch nicht so!«, warf Hortense ein. »Es gibt doch noch den schönen Luca. Wieso ist er heute Abend eigentlich nicht da? Hast du ihn nicht eingeladen?«
»Er verbringt Weihnachten mit seinem Bruder.«
»Dann hättest du den Bruder auch einladen sollen! Ich habe sein Foto im Internet gesehen. Agentur Saphir, Passage Vivienne. Verdammt attraktiv, dieser Vittorio Giambelli! Dunkel, gefährlich, geheimnisvoll. Den würde ich nicht von der Bettkante stoßen!«
Ein neuerliches Klingeln unterbrach ihr Gespräch. Philippe kam mit einer Kiste Champagner im Arm herein, gefolgt von dem düsteren, stummen, verstört dreinblickenden Alexandre.
»Champagner für alle!«, rief Philippe.
Hortense hüpfte vor Freude. »Roederer Rosé, mein Lieblingschampagner!« Philippe gab Joséphine ein Zeichen und zog sie unter dem Vorwand, seinen Mantel und den von Alexandre aufzuhängen, hinaus in den Flur.
»Wir müssen ganz schnell die Geschenke verteilen! Wir kommen gerade aus der Klinik, und es war furchtbar!«
»Der Tisch ist gedeckt. Der Truthahn ist fast durch, wir können in zwanzig Minuten essen. Und danach packen wir die Geschenke aus.«
»Nein! Erst die Geschenke. Das wird ihn auf andere Gedanken bringen. Und anschließend essen wir.«
»Meinetwegen«, sagte sie, überrascht von seinem bestimmenden Ton.
»Ist Zoé nicht da?«
»Sie ist in ihrem Zimmer, ich hole sie …«
»Und bei dir, alles in Ordnung?«
Er hatte sie beim Arm gepackt und an sich gezogen.
Sie spürte die Wärme seines Körpers unter der feuchten Wolle des Jacketts, und ihr wurde heiß. »Ja, ja«, antwortete sie hastig, »könntest du dich vielleicht um das Feuer im Kamin kümmern, während ich mich schnell umziehe und mir die Haare kämme?« Sie redete schnell, um ihre Verwirrung zu überspielen. Er legte einen Finger auf ihre Lippen, betrachtete sie einen Moment, der ihr endlos erschien, und ließ sie dann widerstrebend los.
Das Feuer knisterte im Kamin. Die funkelnden Weihnachtsgeschenke stapelten sich auf dem Parkett. Es bildeten sich zwei Gruppen: die Alten, die freudig darauf warteten, ihre Geschenke zu verteilen, und im Stillen hofften, ins Schwarze getroffen zu haben, und die junge Generation, die der Erfüllung ihrer Wünsche entgegenfieberte. Der leisen Sorge der einen entsprach die angespannte Erwartung der anderen: Würden sie sich bemühen müssen, ihre Enttäuschung zu verbergen, oder könnten sie aufrichtiger Freude freien Lauf lassen?
Joséphine mochte dieses Geschenkeritual nicht. Jedes Mal überkam sie Verzweiflung, sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihre Zuneigung immer ungenügend ausdrücken würde. Sie hätte einen Berg gebären wollen und stand doch fast jedes Mal wieder vor einer Maus. Ich bin mir sicher, dass Gary versteht, wie ich mich fühle, dachte Joséphine, als sie seinen aufmerksamen Blick auffing, der ihr lächelnd zu verstehen gab: »Na, komm, Jo, lächle, es ist Weihnachten, du versaust uns den ganzen Abend mit deiner Märtyrermiene.«
»So schlimm?«, fragte Joséphine wortlos, indem sie verwundert die Augenbrauen hochzog.
Gary nickte.
»Einverstanden, ich reiße mich zusammen«, versprach ihr Blick.
Sie wandte sich Shirley zu, die gerade Philippe die Arbeit ihres Vereins zum Kampf gegen Fettleibigkeit an englischen Schulen erklärte.
»Jeden Tag sterben achttausendsiebenhundert Menschen weltweit wegen dieser Zuckerhändler! Und jährlich kommen allein in Europa vierhunderttausend fettleibige Kinder hinzu! Früher mussten sich Sklaven beim Zuckerrohranbau für sie zu Tode schuften, und jetzt gehen sie auf unsere Kinder los und mästen sie mit dem Zeug!«
Philippe hob beschwichtigend die Hand.
»Übertreibst du da nicht ein bisschen?«
»Sie mischen es überall hinein! Sie stellen Automaten mit Getränken und Schokoriegeln in Schulen auf, sie lassen ihre Zähne verfaulen und stopfen sie mit Fett voll! Und das alles aus reiner Geldgier. Findest du das nicht skandalös? Du solltest dich für diese Sache engagieren. Schließlich hast du auch einen Sohn, der von dem Problem betroffen ist.«
»Glaubst du wirklich?«, fragte Philippe mit einem Blick auf Alexandre.
Mein Sohn droht eher an seiner Angst
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