Der langsame Walzer der Schildkroeten
sich damit, Selbstgespräche zu führen oder fernzusehen. Wenn ich das Alleinsein irgendwann nicht mehr aushalte, kaufe ich mir einen Goldfisch. Die sind erlaubt. Sie gelten sogar als Glücksbringer. Ich fange mit dem Goldfisch an, werde steinreich, und dann … Oder ich kaufe mir eine Schildkröte. Schildkröten bringen auch Glück. Ein schönes Schildkrötenweibchen und ein Männchen dazu. Sie werden mich mit ihren Glubschaugen anschauen. Die sollen ja sehr anhänglich sein … schon, aber wenn sie Angst haben, bekommen sie ganz widerliche Blähungen!
In der Krippe standen Ochs und Esel, die Schafe, die Hirten und die Dörfler mit ihren Holzbündeln auf der Schulter. Das Christkind und seine Eltern waren noch nicht angekommen. Heute Abend, Schlag Mitternacht, würde sie das in Windeln gewickelte Jesuskind in sein Strohbettchen legen, würde ihr Gebet sprechen, eine schöne Flasche Champagner aussuchen und sich damit vor den Fernseher legen.
Von der Wohnungstür aus sah sie ihr Schlafzimmer, das große, mit weißen Laken bezogene schmiedeeiserne Himmelbett, das helle, breite Parkett, sorgfältig polierte Möbel, große Lampen aus lackiertem Holz. Sie hatte Geschmack entwickelt, den guten Geschmack jener Menschen, die mit einem Gespür für Materialien, Farben und Proportionen auf die Welt kommen. Sie hatte Einrichtungszeitschriften studiert. Danach brauchte man nur noch die Rechnungen zu bezahlen. Alles war möglich. Und wenn ich »alles« sage, dann meine ich auch ALLES . Man gibt ihnen die verzwicktesten Dinge, und sie kopieren sie detailgetreu. Und auf geht’s! Sie imitieren sogar die Wurmlöcher in Holzmöbeln, um sie alt wirken zu lassen.
Seit ihrem jämmerlichen Einzimmerappartement in Courbevoie hatte sie einen weiten Weg zurückgelegt. »Jawohl, jämmerlich, meine Liebe! Lass uns die Dinge beim Namen nennen!«, erklärte sie laut und schleuderte die High Heels von den Füßen, in denen sie den Rücken durchdrücken musste wie ein Torero im Angesicht des Stiers. Gebrauchte Möbel, eine schmale, schlecht belüftete Kochnische in dem einzigen Raum, der ihr als Wohn-Ess-Schlafzimmer inklusive Wandschrank diente. Eine Tagesdecke aus weißem Pikee, ein paar Kissen, Brotkrümel, die sich in den Falten einnisteten und sie am Rücken kratzten, wenn sie sich hinlegte. Und abends, wenn sie das Bügelbrett aufklappte, konnte sie mit der Spitze des Bügeleisens die Nase des Nachrichtensprechers berühren. Hallo, Patrick!, begrüßte sie ihn, während sie ihre weißen Blusenkragen glättete. Sie hatte häufig darüber gescherzt: »Natürlich kenne ich Poivre d’Arvor, ich plätte jeden Abend seinen Adamsapfel!« Sie war immer sehr gepflegt und bügelte abends sorgfältig die Kleider, die sie am nächsten Tag anziehen würde. Bloß weil man kein Geld hat, braucht man doch nicht rumzulaufen wie ein Penner, vertraute sie dem Journalisten an, der mit trübsinniger Stimme alle Katastrophen dieser Welt herunterleierte.
Miese Zeiten waren das! Sie lauerte auf Trinkgeld, um ihren mickrigen Lohn etwas aufzubessern und am Monatsende über die Runden zu kommen. Ließ das Abendessen ausfallen, um ihre Figur und ihr Portemonnaie zu schonen. Ging nicht ans Telefon, wenn im Display die Nummer ihres Bankberaters auftauchte, und fiel beim Anblick eines bedruckten Umschlags in Ohnmacht. Was für ein Leben! Sie hatte sogar ernsthaft darüber nachgedacht, anschaffen zu gehen, ein-, zweimal in der Woche, um sich etwas dazuzuverdienen. Sie hatte Freundinnen, die übers Internet Freier an Land zogen. Sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt. Wenigstens bist du diejenige, die entscheidet, du bestimmst den Freier, die Leistungen, die Dauer des Treffens, den Preis. Du bist der Chef. Hast deine eigene kleine Firma. Niemand, der dich rumschubst. Und auf geht’s, kriegt doch eh keiner mit. Was bleibt mir auch anderes übrig? Wie soll ich mit meinen dreieinhalb Kröten Miete, Steuern, Abgaben, Versicherungen, Gebühren, Gas, Strom und Telefon bezahlen? Sie bemerkte, wie die Männer ihr Dekolleté anstarrten. Wie sie sabberten. Rantanplans nannte sie sie. Sie war kurz davor gewesen, dem brünstigen Werben eines gut betuchten Rantanplan nachzugeben, als Antoine Cortès auf der Bildfläche erschienen war.
Ihr Retter. Antoine Cortès, der Ritter ohne Furcht und Tadel, der ihr von Afrika erzählte, von Raubkatzen, Zeltlagern, Gewehrschüssen in der Nacht, von Gewinnen und Erfolg, während er die Tiefkühlquiche aß, die sie ihm in der Mikrowelle
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