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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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Ofen auszuschalten!«
    In dem Moment tauchte Joséphine wieder auf, sie hatte ihre große weiße Schürze umgebunden.
    »Der Truthahn ist verkohlt«, erklärte sie und schnitt eine Grimasse.
    Gary seufzte enttäuscht. »Es ist elf Uhr abends, und wir haben noch immer nichts gegessen. Liebe Familie Cortès, ihr geht mir auf die Nerven mit euren Psychodramen! Mit euch feiere ich definitiv nie wieder Weihnachten!«
    »Was soll das denn? Drehen jetzt alle durch?«, rief Shirley.
    »Ach, lasst mich doch!«, kreischte Zoé, packte ihren Flat Daddy und marschierte zurück in ihr Zimmer.
    Gary griff nach der Lachsplatte, schob zwei Scheiben auf seinen Teller und ließ die Gänseleberpastete folgen.
    »Tut mir leid«, erklärte er mit vollem Mund, »aber ich fange lieber an, ehe die nächste Runde losgeht. Mit vollem Magen verkrafte ich das besser!«
    Alexandre folgte seinem Beispiel und nahm sich Lachs und Gänseleberpastete gleich mit den Fingern. Philippe wandte den Kopf ab. Das war nicht der passende Moment, um seinen Sohn an Tischmanieren zu erinnern. Joséphine war auf ihrem Stuhl zusammengesunken, betrachtete trübsinnig den Tisch und strich gedankenverloren über die gestickten Buchstaben auf ihrer Schürze. Ich bin der Küchenchef, alles hört auf mein Kommando.
    Philippe schlug vor, den verkohlten Truthahn zu vergessen und gleich zum Käse und der Bûche überzugehen.
    »Fangt schon mal ohne mich an. Ich sehe nach Zoé«, sage Joséphine und stand auf.
    »Na, super! Jetzt geht das wieder los. Einer nach dem anderen verschwindet!«, sagte Shirley. »Aber ich hätte gern ein bisschen Gänseleberpastete, ehe ich entschwebe.«
    Mylène Corbier warf ihre Hermès-Handtasche – eine echte, in Paris gekaufte, nicht so eine Fälschung, wie man sie an jeder Straßenecke fand – auf den großen roten Ledersessel im Eingangsflur und musterte zufrieden ihre Einrichtung. Ist das schön, sagte sie sich leise. Einfach wunderschön! Und das ist mein Zuhause! Ich habe das alles bezahlt, von meinem EIGENEN Geld!
    Seit sechs Monaten lebte sie in Shanghai, und sie hatte ihre Zeit gut genutzt. Diese Wohnung war der Beweis dafür. Geräumig, mit riesigen Panoramafenstern, wallenden Vorhängen aus ungebleichtem Tuch und einer Holztäfelung an den Wänden, die sie an das Zuhause ihrer Jugend erinnerte, als sie eine Friseurlehre machte und bei ihrer Großmutter in Lons-le-Saunier lebte. Lons-le-Saunier, dessen einziger Verdienst darin bestand, die Geburtsstadt von Rouget de Lisle zu sein. Lons-le-Saunier, zwei Minuten Aufenthalt. Lons-le-Saunier, ewig währende Langeweile.
    Die Wohnung war ein langes Loft, die einzelnen Bereiche wurden durch hohe Raumteiler mit hölzernen Lamellen abgetrennt. Die Wände waren eierschalenfarben patiniert. »Schicker geht’s nicht!«, sagte sie laut zu sich selbst und schnalzte genüsslich mit der Zunge. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als Selbstgespräche zu führen, denn es gab niemanden, mit dem sie ihre Genugtuung teilen konnte. Es war schon schlimm genug, allein zu leben, geschweige denn allein und stumm! Vor allem jetzt, über die Feiertage. Sie würde Weihnachten und Neujahr in trauter Zweisamkeit mit ihrem Plastikweihnachtsbaum feiern, den sie übers Internet bestellt hatte. Und mit einer kleinen Krippe unter dem Baum. Ihre Großmutter hatte sie ihr geschenkt, ehe sie nach China gezogen war. »Und vergiss nicht, jeden Abend zum kleinen Jesuskind zu beten! Es wird dich beschützen.«
    Bisher hatte das kleine Jesuskind seinen Auftrag einwandfrei erfüllt. Da konnte sie nicht meckern. Ein bisschen Gesellschaft wäre schön, dachte sie, ein paar Streicheleinheiten hier und da, aber das schien ihm nicht so wichtig zu sein. Sie seufzte. Man kann nicht alles haben, ich weiß. Sie hatte sich dafür entschieden, in Shanghai zu leben und Karriere zu machen, himmelhoch jauchzend, das käme später. Wenn sie reich wäre. Sehr reich. Im Moment war sie einigermaßen reich. Sie hatte eine schöne Wohnung, einen Vollzeitchauffeur (fünfzig Euro im Monat!), aber sie zögerte noch, in ein Haustier zu investieren. Fünftausend Euro Steuern pro Jahr, wenn es die Größe eines Chihuahuas überstieg. Sie wollte einen richtigen Hund, mit richtigem Fell und sabbernden Lefzen, nicht so ein Minimodell, das man zum Puderdöschen in die Handtasche steckt. Sobald man diesem Land einen Bewohner pro Quadratmeter hinzufügte, hieß es zahlen. Fünf Jahreslöhne, wenn man ein zweites Kind haben wollte! Vorläufig begnügte sie

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