Der langsame Walzer der Schildkroeten
auch das letzte Mal …«
»Hast du Angst, Iris wehzutun?«
Joséphine nickte schweigend.
»Und du hast ihn nicht mehr wiedergesehen?«
»Nein.«
»Und das hat dir wehgetan?«
Joséphine seufzte.
»Ja. Es tut immer noch weh.«
»Weiß Iris Bescheid?«
»Ich glaube, sie ahnt etwas, aber sie weiß nichts. Sie glaubt, ich sei heimlich in ihn verliebt, aber er beachte mich gar nicht. Sie kann sich nicht vorstellen, dass er mich ansehen könnte …«
»Ach, Iris glaubt doch immer, alles drehe sich nur um sie!«
»Psst, Liebes! Sie ist deine Tante, und sie macht gerade eine schwere Zeit durch …«
»Hör auf, Maman. Hör auf, ihr immer alles zu verzeihen! Du bist viel zu gutmütig … Und was ist mit Papa? Stimmt das mit dem Krokodil?«
»Ich bin mir nicht mehr sicher. Ich verstehe das alles nicht mehr …«
»Ich will es wissen, Maman. Auch wenn es hart ist …«
Sie schaute sie ernst an. Sie stand an der Schwelle vom kleinen Mädchen zur Frau. Sie verlangte nach der Wahrheit, um ihre Persönlichkeit zu festigen. Joséphine konnte sie nicht anlügen. Sie konnte die entsetzliche Wahrheit abmildern, aber sie durfte sie ihr nicht verschweigen.
Und so erzählte sie ihr, dass Mylène sie vor einem Jahr über Antoines Tod informiert hatte, erzählte ihr von den Nachforschungen der französischen Botschaft, davon, dass Antoine offiziell für tot erklärt worden war und sie nun Witwe war, von dem Paket, dem Brief seiner Freunde aus dem Crocodile Café, von allem, was darauf schließen ließ, dass er eindeutig tot war. Sie vermied die Worte »von einem Krokodil gefressen«, denn dieses Bild würde sich in Zoés Gedächtnis einbrennen und nachts wiederkehren und sie quälen … Dann sprach sie von den Briefen. Den Mann in der Métro erwähnte sie nicht, weil sie sich nicht sicher war, ob er es auch tatsächlich gewesen war, und sie verschwieg auch die gestohlenen Intermarché-Punkte, denn sie wollte Zoé nicht verletzen, indem sie ihren Vater beschuldigte, ein Dieb zu sein.
»Und deshalb weiß ich jetzt nicht mehr, was ich glauben soll …«
Wieder ergriff Verwirrung von ihr Besitz, und mit der Verstocktheit derjenigen, die etwas wissen möchte, aber keine Antwort erhält, fixierte sie einen Punkt auf dem Boden.
»Weißt du, Liebes, wenn er plötzlich vor der Tür stünde, würde ich ihn aufnehmen, ich würde ihn nicht fallen lassen. Ich habe ihn geliebt, er ist euer Vater.«
Manchmal dachte sie daran zurück, wie Antoine ausgezogen war. Sie hatte sich gefragt, wie sie ohne ihn leben sollte. Wer würde die Route auswählen, wenn sie in den Urlaub fuhren, wer den Wein, den Internetanbieter? Sie sehnte sich oft nach einem Ehemann zurück. Nach einem Mann, der ihr eine Stütze war. Und dann dachte sie, dass ein Ehemann seine Frau nicht verlassen sollte …
Zoé nahm ihre Hand und setzte sich neben sie. Auf einen Beobachter mussten sie wie zwei Soldatenfrauen wirken, die auf ihre Männer warteten, von denen niemand wusste, ob sie jemals von der Front zurückkehren würden.
»Den nächsten Brief müssen wir ganz genau lesen«, erklärte Zoé. »Wenn einer seiner Freunde aus dem Crocodile Café sie nur zum Spaß schreibt, können wir das an der Schrift erkennen …«
»Es ist die Schrift deines Vaters. Ich habe sie verglichen … Oder jemand hat sie wirklich gut nachgemacht! Aber warum sollte sich jemand einen Spaß daraus machen, uns solche Briefe zu schicken?«, fragte Joséphine, plötzlich erschöpft von der Last dieser Zweifel, die ihre Gedanken ausfüllten.
»Die Leute werden immer verrückter, Maman …«
Ein Schatten legte sich über Zoés braune Augen. Joséphine erschrak. Hatte der Tod ihres Vaters, seine Abwesenheit sie reifer werden und die Unschuld der Kindheit mit einem verächtlichen Achselzucken abwerfen lassen? Oder war es der erste Liebeskummer?
»Und wieso standen dann die ganzen Leute im Hof?«, fuhr Zoé fort, als kehrte sie in die Wirklichkeit zurück.
»Wegen Mademoiselle de Bassonnière. Man hat ihre Leiche im Müllraum gefunden.«
»Ach so«, sagte Zoé. »Hatte sie einen Herzinfarkt?«
»Nein. Sie glauben, sie sei ermordet worden …«
»Wow! Ein Verbrechen bei uns im Haus! Wir kommen in die Zeitung!«
»Mehr macht dir das nicht aus?«
»Ich mochte sie nicht, da brauche ich mich doch jetzt nicht zu verstellen. Sie hat mich immer angesehen, als hätte ich Petersilie in den Nasenlöchern!«
Am nächsten Tag musste Joséphine aufs Polizeirevier, um ihre Aussage zu unterschreiben.
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